Die KindsBraut – Auslöser und Ziel für die sexuellen Fantasien des Mannes
Zuerst einmal scheint es mir wichtig, den Begriff KindsBraut zu definieren. Bei meiner Recherche, stieß ich auf einen Text, in dem sich Michael Wetzel mit dem Phänomen der KindsBraut auseinandersetzt. In seiner Abhandlung „Arno Schmidt: Leben im Werk“ hat er den Begriff so treffend definiert, dass ich mich entschlossen habe, diese Definition zu zitieren.
„Was ist eine KindsBraut? Dieser Begriff fällt auf und irritiert, selbst in einem semantischen Umfeld, das gesättigt ist durch die gängigen, ja man kann sogar sagen marktgängigen, d.h. populären und medienwirksamen Beschwörungen äquivalenter Begriffe wie der Kindfrau, Mädchenfrau, der kleinen und großen Mädchen, ganz zu schweigen vom erotischen Wetterleuchten, das sich am Horizont des neuerdings allgegenwärtigen Themas sexuellen Missbrauchs von Kindern ankündigt. Man ahnt, worum es geht, und schon naht ein weiterer Name, der zum Allgemeinbegriff avanciert ist, vielleicht zum Schibboleth der uneingestandenen oder unein(aus?)stehbar gewordenen Majorität des männlichen Begehrens: der Lolita-Komplex, frei nach der Titelheldin aus Nabokovs gleichnamigen Roman, die Geschichte von der verzweifelten Liebe eines älteren, alternden Mannes zu einer an der Schwelle weiblicher Reife stehenden Frühadoleszenten, die nicht zuletzt durch die jüngste Verfilmung die Gemüter wieder erregt hat.
Man ahnt, worum es geht: ahnt, weil man es nicht genau weiß, obwohl doch der Weg vom Begriff gewiesen wird, nämlich vom Kind zur Braut geht. Herkömmlicherweise bezeichnet der Brautgang einen Weg, der von der Ahnung zur Gegenwart einer Reife führt, die als Partnerwahl und Familiengründung anthropologisch einem symbolischen Akt verpflichtet ist, der biologisch schlicht Prokreation heißt. Wäre da nicht das Präfix Kind, das- auch in biologischer Hinsicht – die angezeigte Entwicklungstendenz stört, blockiert, ja umkehrt: Die Vorstellung von einer Braut, die Kind ist, verkehrt, auf nahezu perverse Art, worum es geht, nämlich Reife, indem sie die Ahnung eines Später durch die Gegenwart eines Früher enttäuscht. Das also wäre die Kindsbraut, eine Enttäuschung, ein nicht eingelöstes Versprechen – z.B. eines Brautgelöbnisses – ,das aber, und hier beginnt die Geschichte der KindsBraut als Fantasma jenseits von Prokreation und Protektion – gerade aus der Nichteinlösbarkeit seine ganze Kraft – auch im dynamischen Sinne von Attraktivität, d.h. Anziehungskraft – zieht.
Logisch gesehen erfüllt die KindsBraut den Fall der contradictie in adiectio. Anders als die schwesterliche Kindfrau, die im Kind das Frauliche erahnen lässt, das aber umgekehrt auch in sich die Züge des Kindlichen bewahren kann, scheint das Bräutliche noch mehr auf eine Entscheidung zwischen kindlicher Unschuld und weiblicher Reife zu drängen. Nicht nur musikalisch legt es das Modell der Fuge nahe, deren gedrängte Fülle auch auf den Begriff der Engführung gebracht wird. Die beiden Stimmen, die im Namen KindsBraut enggeführt werden, heißen „nicht mehr“ und „noch nicht“, denn genau genommen handelt es sich bei diesem eminenten, epochalen Zeit-Phänomen um ein Wesen, das nicht mehr Kind und noch nicht Braut, das aber dennoch eins nicht ohne das andere ist, wobei dieses Sein im Sinne des real nur enttäuschenden Versprechens einem Scheinen weicht, in dem die beiden ausgeschlossenen Positionen des Kindes und des Bräutlichen sich für den intensiven Augenblick eines in der Schwebe gehaltenen Zustandes vereinen: nicht als Identität, sondern als chiasmatische Synthese von schon Braut scheinender Kindlichkeit und noch Kind scheinender Bräutlichkeit. Im Chiasmus, der bekanntlich dem mathematischen Zeichen X ähnelt, öffnet sich so etwas wie ein Zeitloch, das den chronologischen, linearen Zeitverlauf absorbiert und in einer Art von imaginärem Fokus das Früher und Später zu einer Spiegelbildlichkeit anhält. Es scheint, als werde im Fantasma der KindsBraut die Zeit an einem entscheidenden Umschlagspunkt angehalten, einem Kulminationspunkt, der auch in den psychologischen, kultursoziologischen ect. Diskursen unter den Namen der Pubertät seine initiationsrituelle Würdigung erfahren hat. Und nimmt man die Engführung des Chiasmus von nicht mehr/noch nicht ernst, so vernimmt man die fantasmatische Botschaft des Versprechens: nämlich ein im Zeichen des einklammernden Nicht ergehendes zentrales Noch-mehr.“
Da wir jetzt wissen, was eine KindsBraut ist, stellt sich eine weitere Frage.
Was hat die KindsBraut mit der Literatur zu tun?
Wie ich schon in meinem Artikel „Epigonen in der bildenden Kunst und in der Literatur“ erwähnte, war das Motiv der KindsBraut nicht nur Vorlage für eine Reihe von Romanen, sondern es fühlten sich einige Schriftsteller selbst zu KindsBräuten hingezogen, liebten und heirateten sie sogar.
Edgar Allan Poe z.B. heiratete mit 27 Jahren seine 13 jährige Cousine Virginia. Sie blieb eine KindsBraut bis zu ihrem frühen Tod elf Jahre später, bleich, scheu, zärtlich und ohne jedes Verständnis für das Werk ihres Mannes. Die Ehe wurde nie vollzogen, da Poe Virginia nie berührte. Nach ihrem Tod, sie starb wie Poes Mutter an offener Tuberkulose, versuchte er sein eigenes Ende mit Opium und Alkohol zu beschleunigen (umstritten) und starb schließlich nach zwei quälenden Jahren. Poes Ehe wurde zum Archetypus gelebter Nicht-Beziehung mit einem „Gedanken-Liebchen“.
Auch Charles Dickens hatte eine Beziehung zu einer KindsBraut, der Schauspielerin Ellen Ternan. Scheinbar hatte er mit ihr im Leben gefunden, was er in seinen Romanen als Traumbild immer wieder beschwor: „eine vom Liebreiz der Unschuld umgebene Kindfrau“. Bis heute ist unklar, ob es sich bei dieser Liebschaft um eine platonische oder eine sexuelle Beziehung handelte. Wenn aber die isolierte Unschuld für Dickens einen so hohen Wert darstellte, könnte seine Entrüstung echt gewesen sein, als man ihn des Ehebruchs beschuldigte. Auch wenn dies nicht beweisbar ist, scheint die Anbetung der Kindfrau für ihn ein höherer Wert gewesen zu sein als die sexuelle Befriedigung und es ist daher unwahrscheinlich, dass er sich diesen Traum durch die physische Liebe zerstört haben sollte. Fakt ist aber, dass er für seine Geliebte seine Frau, die ihm 10 Kinder geboren hatte, verließ.
Der Begriff Kindfrau ist von Charles Dickens in seinem Roman David Copperfield geprägt worden. Dickens lässt hier die kindliche Ehefrau Copperfields, Dora Spenlow, sagen:
„Will you call me a name I want you to call me?” inquired Dora, without moving.
“What is it?” I asked with a smile.
“It’s a stupid name,” she said, shaking her curls for a moment. “Child-wife.”
I laughingly asked my child-wife what her fancy was in desiring to be so called. She answered without moving, otherwise than as the arm I twined about her may have brought her blue eyes nearer to me:
“I don’t mean, you silly fellow, that you should use the name instead of Dora. I only mean that you should think of me that way. When you are going to be angry with me, say to yourself, “it’s only my child-wife!” When I am very disappointing, say, “I knew, a long time ago, that she would make but a child-wife!” When you miss what I should like to be, and I think can never be, say, “still my foolish child-wife loves me!” For indeed I do.”
Der Schriftsteller Arno Schmidt übersetzte den Begriff „Child-wife“, der „Kind-Ehefrau“ hieße, galanter mit „KindsBraut“. So kann Schmidt als Autor dieses Begriffes gelten, nicht aber als sein Erfinder, denn es handelt sich ja genau genommen um eine Übersetzung eines im Englischen bereits existierenden Begriffes.
Arno Schmidt selbst ließ in seinen Romanen unterschiedliche KindsBräute lebendig werden, aber wie die Kindsbräute, mit denen Dickens und Poe zusammenlebten, blieben diese unangetastet von den sie begehrenden Männern. Sie waren lediglich das Ziel der sexuellen Fantasien, der meist älteren potenziellen Liebhaber. Dies scheint in vielen Fällen, nicht nur in der Literatur, exemplarisch zu sein. Die KindsBraut ist eine Idee, die in keinem lebenden irdischen Wesen sich erfüllen kann. Sie ist die Statthalterin einer erotischen (Un)Ordnung, die nicht dem Gesetz dessen untersteht, was Freud in seinen drei Abhandlungen zur Sexualtheorie die „Endlust“ nannte, d.h. den Vollzug des Koitus, samt des damit verbundenen Leistungsanspruchs einer Befriedigung der genitalen Spannung. Gerade ältere Männer, die von der Angst der drohenden Impotenz, die von Arno Schmidt geradezu dämonisiert wurde, umgetrieben werden, neigen eher dazu, ihre Fantasien auf eine KindsBraut zu lenken, ist damit sichergestellt, dass sie ihre Potenz weder beweisen müssen noch dürfen.
Ein weiteres Beispiel aus der Welt der Literatur ist die Liebe des alternden Johann Wolfgang von Goethe zu einer KindsBraut. Er verliebte sich im Jahr 1821 während eines längeren Kuraufenthaltes im mondänen Marienbad in die siebzehnjährige Ulrike von Levetzow. Zum letzten Mal in seinem Leben verspürte er „eine große Leidenschaft“. Bei einem Zusammentreffen 1823 veranlasste Goethe Großherzog Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach in seinem Namen um die Neunzehnjährige zu werben.
Seinen Schmerz über die Abweisung des Heiratsantrags drückte Goethe in seiner Marienbader Elegie aus, mit deren Niederschrift er bereits im September 1823 während der Abreise von Böhmen nach Thüringen begann und von deren Existenz Ulrike von Levetzow erst nach Goethes Tod erfuhr. Goethe trug in sein Tagebuch am 19. September 1823 ein: „Die Abschrift des Gedichts vollendet.“ Der Elegie stellte er das dem Tasso entlehnte Motto voran: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt / Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide.“
Auch in Goethes Prosa finden wir mit dem Zigeunermädchen Mignon eine echte KindsBraut, die den Wilhelm aus dem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, aufrichtig liebt und verehrt. Sie zerbricht schließlich an dieser Liebe und stirbt, wie fast alle „literarischen“ KindsBräute sehr jung sterben.
Bestrafen die Dichter hiermit unbewusst die „Sünde“, die ihre KindsBräute begehen?
Dies wäre allerdings höchst ungerecht, sind es doch die Fantasien der Männer, die ein Kind zur KindsBraut machen und nicht umgekehrt. Das Mädchen, das an der Schwelle zur Pubertät steht und die Begierde eines Mannes auf sich zieht, ist sich dessen nicht bewusst. Erst durch das Werben des Mannes wird sich das Mädchen der Macht bewusst, die es unbewusst ausgeübt hat. Durch den weiteren Umgang mit dem Mann, der mit ihr über seine Fantasien spricht, ihr sagt und zeigt, dass er sie liebt und begehrt, kann das Mädchen kokett werden. Es entwickelt sich also erst durch die Fantasie des Mannes zu einer KindsBraut. Auch wenn KindsBräute im Normalfall von ihren Liebhabern nicht sexuell berührt werden, handelt es sich bei einem solchen Verhältnis um eine Form des Kindesmissbrauchs. Dabei müssen wir sicher einen Unterschied zwischen Pädophilen und Nympholepten machen. Ein pädophil veranlagter Mann, richtet sein primär sexuelles Interesse auf Personen, die noch nicht die Pubertät erreicht haben. Dabei kann es sich gleichermaßen um Jungen und Mädchen handeln. Pädophile leben ihre Sexualität häufig real aus.
Nympholepten dagegen richten ihre sexuelle Fantasie auf die sogenannten Nymphchen, also auf kindliche, frühreife Mädchen. Nympholeptisch veranlagte Männer leben ihre Sexualität eher selten aus.
Ist das Mädchen also, zumindest zum Beginn der Beziehung, unschuldig, stellt sich die Frage, warum so viele Kindsbräute in Romanen wie auch im wirklichen Leben im noch jugendlichen Alter sterben. Als Beispiele hierfür sind zu nennen:
Das Mädchen Mignon, aus Wilhelm Meisters Lehrjahre von Johann Wolfgang von Goethe.
Dora Spenlow, die kindliche Ehefrau des David Copperfield von Charles Dickens.
Effi Briest aus dem gleichnamigen Roman von Theodor Fontane.
Maria Dorothea Stechard aus dem Roman „Die kleine Stechardin“ von Gert Hofmann.
Virginia Poe, die kindliche Ehefrau des Edgar Allan Poe.
Lolita, die KindsBraut aus dem gleichnamigen Roman von Vladimir Nabokov.
Wahrscheinlich liegt es an der männlichen Sicht auf diese Geschöpfe. In dem Roman „Der Liebhaber“, der von einer Schriftstellerin, Marguerite Duras, geschrieben wurde, überlebt die KindsBraut, wenn auch nicht ganz unbeschadet.
„Jetzt sehe ich, dass ich sehr jung, mit achtzehn, mit fünfzehn, ein Gesicht hatte, in dem jenes andere vorweggenommen war, das mir später der Alkohol in mittleren Lebensjahren beigebracht hat. Der Alkohol übernahm die Funktion, die Gott nicht gehabt hat, auch jene, mich zu töten, zu töten.“
Auch hier die Andeutung einer Schuld, die hätte gesühnt werden müssen. Doch Marguerite Duras lässt ihre Heldin überleben. Die späteren Alkoholexzesse, in die die KindsBraut des Romans wie auch ihre Schöpferin verfallen, machen aber deutlich, dass beide durch ihre kindliche Beziehung zu einem reiferen Mann seelischen Schaden genommen haben. Dazu muss noch gesagt werden, dass die Schriftstellerin in dem Roman „Der Liebhaber“ ihre eigene Lebensgeschichte erzählt.
KindsBräute erleiden also ein Schicksal, dass ihnen nicht die Zeit lässt, langsam erwachsen zu werden. Statt dessen sind sie ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung weit voraus. Welchen Schaden dadurch ihre Seele nimmt, ist unabsehbar.
Text und Fotos: ©Xenia Marita Riebe
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