„Immer feste druff!“, kreischte das Goldene Wiener Herz

Bevor du deine Stimme der AfD oder der Werte Union gibst, überlege, welche Folgen es haben kann, wenn rechtsradikale Parteien mit ihrer Propaganda die Bevölkerung aufwiegeln.

Als Beispiel hierfür steht ein Ausschnitt aus dem Buch „Der Vulkan – Roman unter Emigranten“, das Klaus Mann in den Jahren 1937 – 1939 schrieb.

Der Bankier Siegfried Bernheim lässt sich von seinem Chauffeur zum Französischen Konsulat fahren, um sich dort ein französisches Transit-Visum ausstellen zu lassen. Er will Wien verlassen und in London Zuflucht suchen. Vor dem Konsulat wird er von der entmenschten, aufgewiegelten Volksmenge aus seinem Wagen gezerrt, auf grausamste Weise erniedrigt und schließlich erschlagen.

Auszug aus „Der Vulkan“

Indessen hielt das Gefährt vor dem Konsulat. Bernheim konnte sich noch nicht gleich zum Aussteigen entschließen. Er lüftete den Vorhang ein wenig; was er sah, war erschreckend. Vor dem Haus mit der französischen Flagge standen die Leute Schlange – eine lange, stumme Reihe auf das Trottoir hinaus. Bernheim bemerkte respektable Herren, die er kannte. Sie standen gebückt, den Hut tief in die Stirn gezogen. Wie bleich sie alle waren – und die Gesichter schienen von Angst verzerrt.
Es gab Grund genug, sich zu fürchten. Der Menschenauflauf um die Wartenden wurde immer dichter. Weiber, Burschen, Kinder blieben stehen – Arme in die Hüften gestemmt, und die Mäuler höhnisch aufgerissen. Sie kreischten Beleidigungen: Bernheim hörte es durch die Fensterscheibe. Es war eine dicke Frau in blauer Schürze, die einen der Juden an den Schultern packte. Erst schüttelte sie ihn ein wenig – es wirkte fast neckisch, besonders weil die Frau so vergnügt dazu kicherte. Indessen blieb der Herr schrecklich ernst; wehrte sich auch nicht, bekam vor Angst geweitete Augen. Es wurde stärker gelacht; die Heiterkeit erreichte ihren Höhepunkt, als die Dicke dem Bankdirektor – einem von Bernheims einflussreichen Freunden – mit flacher Hand ins Gesicht schlug. Auch diese Ohrfeige hatte noch scherzhaft-intimen Charakter. Indessen reagierte die Menge, als hätte der Bankdirektor seinerseits die Frau misshandelt. Mehrere Männer stürzten sich auf ihn, er ward von ihren Leibern zugedeckt, dem Pöbel entging der amüsante Anblick seines Falles. Hingegen konnte man ihn jammern hören. Die Prügel, die er jetzt bekam, waren ernst; vielleicht waren sie tödlich. Bernheim sah das Gesicht seines alten Freundes nicht mehr.
Die Leute applaudierten: hier ward gute Arbeit getan. Sie heulten: »Saujud! Menschenschinder!« Das Goldene Wiener Herz war in Aufruhr, die Wiener Gemütlichkeit tobte, der Stephans-Turm schaute zu. »Immer feste druff!« verlangte schneidig eine Männerstimme mit dem preußischen Akzent, der hier früher kaum beliebt gewesen war. Jetzt aber nahm niemand Anstoß; man war in festlicher Stimmung, durchaus bereit, das alte Vorurteil aufzugeben, und übrigens vom Ehrgeiz erfüllt, selber »schneidig« zu werden. »Immer feste druff!« kreischte das Goldene Wiener Herz –: der Berliner Tonfall klang noch nicht ganz natürlich aus dem Munde der Österreicher; aber sie würden es lernen, waren der besten Absichten voll – und prügeln konnten sie jetzt schon, wie die deutschen Brüder in Dachau oder Oranienburg: dies bewiesen die uniformierten Burschen, lauter echte Wiener Kinder, tapfere Kerle – zehn junge Athleten gegen einen kränklichen alten Israeliten –: immer feste druff!
Bernheim sagte mit bebenden Lippen zu seinem Chauffeur: »Fahren Sie weiter!« Er dachte: ›Ich werde mit dem französischen Konsul telefonieren; ich schicke ihm einen Boten; er gibt mir das Transit-Visum – er muss es mir geben – ich muss fort – der Konsul hat bei mir zu Abend gegessen, er kann nicht dulden, dass ich hier erschlagen werde wie ein toller Hund . . .‹
Er wiederholte: »Ich bitte Sie – fahren Sie weiter!« Der Chauffeur antwortete ihm mit einem trüben Blick über die Schulter. Der Wagen war schon umringt; Bernheim begriff: Ich bin in der Falle, bin ausgeliefert, am Ende. – Der Chauffeur schaute ihn an, mitleidig und verächtlich. Bernheim erinnert sich plötzlich, in all seiner Angst: Der Chauffeur war ein Sozialdemokrat, er hatte im Februar 1936 gegen die Truppen der Regierung Dollfuss gekämpft, er hatte die Regierung Schuschnigg gehaßt, er verabscheute auch die Nazis, er war nicht für die Restauration, er war für die Republik. »Im Februar 1936 haben wir Österreich verloren!« Diese Worte hatte Bernheim von ihm gehört – jetzt fielen sie ihm ein. Der Chauffeur sah ihn an; sein Gesicht blieb starr, als die Tür des Wagens aufgerissen wurde.
Ein Arm mit Hakenkreuzbinde langte in den Wagen; ein entmenschtes Gesicht ward sichtbar. – »Sind Sie auch ein Jud?« – Welch entsetzliche Stimme! Der Atem, der zu ihr gehörte, stank nach Bier. Herrn Bernheim wurde sehr übel; er fürchtete, sich übergeben zu müssen. »Ich bin Ausländer!« brachte er hervor. Die Antwort war nur ein dröhnendes Gelächter. »Das kann jeder sagen!« höhnte die stinkende Stimme. »Was für einen Pass hast du dir denn gekauft, du Hund?« – »Ich bin Bürger des Fürstentums Liechtenstein!« Bernheim machte eine letzte Anstrengung, seine Würde zu wahren, und sowohl gütig als auch kräftig zu wirken. Indessen ward das Gelächter noch wilder. Der Mann, der Bier getrunken hatte, ließ dumpfes Jubeln hören. »Hoho! – Und so was fährt in einem dicken Packard rum!« –: als ob es gerade für einen Bürger von Liechtenstein besonders unpassend wäre, in einem guten Automobil zu sitzen.
»Die Koffer hat er auch schon mitgenommen!« stellte erbittert ein verwelktes Frauenzimmer fest: es war die gleiche, die vorhin so zänkisch den Führer hatte hochleben lassen. Der Biertrinker machte plötzlich ein strenges Beamtengesicht. »Wahrscheinlich Steuerhinterziehung!« behauptete er, völlig sinnlos, und sah tugendhaft aus: eine Stütze der Ordnung, legitimer Verteidiger staatlicher Interessen. – »Das werden wir ja gleich haben!« brüllte er, die Miene purpurn verfärbt. Er riss Bernheim aus der Limousine – ihn mit beiden Armen umfassend, wie zu einer mörderischen Liebkosung.
Siegfried Bernheim, zu Boden geschleudert, berührte das Straßenpflaster mit seiner Stirn. Er kauerte, wie ein Orientale in der Pose der Andacht. Die Hände hatte er vors Gesicht gelegt; zwischen seinen dicken Fingern quoll der rosiggraue Bart hervor. Er hielt still; er wußte nur noch: Sie werden mich schlagen . . . Da spürte er schon den ersten fürchterlichen Hieb im Nacken. Es musste ein Gummiknüppel sein, von dem er getroffen wurde. Bernheim hatte in seinem Leben noch niemals solchen Schmerz gekannt. Er dachte: Ich will nicht schreien. Das Gesindel soll mich nicht weinen hören . . . Gleichzeitig aber ward ein Wimmern laut – ein fremdes, kindisches kleines Wimmern: er erkannte es nicht, und doch kam es aus seinem Munde. ›So ist das also‹, fühlte er, halb betäubt. ›So ist es, wenn man geschlagen wird mit einem Gummiknüppel. Man kann den Hals nicht mehr rühren, er wird heiß und steif, wahrscheinlich wird es eine große Beule geben – mein Gott, tut das weh –; man bekommt nasse Augen, und man wimmert, ob man will oder nicht.‹ – Die Beobachtungen waren interessant, wenngleich schaurig. Übrigens blieb eine gewisse Neugierde wach in dem gemarterten Kopf. Bernheim fragte sich: ›Was werden sie jetzt mit mir machen? Sie haben mich geschlagen; vielleicht töten sie mich . . .‹
Sie hatten noch allerlei mit ihm vor. Die Verwelkte mit der zänkischen Stimme forderte animiert: »Er soll putzen! Den Boden soll er aufputzen, die Plakate von der Vaterländischen Front soll er wegputzen von der Mauer! Auf der Ringstraße drüben haben die Saujuden auch putzen müssen!« Sie schien entzückt von ihrem kleinen Einfall; ihre Stimme krähte vor Begeisterung. »Ich habe lang genug die Böden aufgewischt!« erklärte sie noch. »Bei einem Juden – ja, so hat eine Volksgenossin sich erniedrigen müssen! Jetzt sind aber die an der Reihe! Putzen soll er – putzen – putzen!!« jauchzte sie mit ekstatischem Eigensinn. Bernheim, aufs Pflaster gekauert, dachte: ›Die Plakate von der Vaterländischen Front? Sie können doch gar nicht fest an den Mauern kleben; sind doch nur dünnes Papier . . . Was war denn die Vaterländische Front? Ach ja – das falsche Pferd, auf das ich gesetzt habe. 25 000 Schillinge hab ich für sie gegeben – das Geld hätt ich besser verwenden können – warum schreit die Person eigentlich immerfort, ich soll putzen?‹
Der Vorschlag der verwelkten Haushälterin wurde allgemein verständig gefunden; gleich schrie die Menge im Chor: »Putzen soll er! Putzen!« Sogar Herrn Bernheims Chauffeur schrie mit, sonst wäre er wohl seinerseits verprügelt worden, man hatte ihn schon »Judenknecht« genannt; einige meinten sich zu erinnern: »Das ist so ein alter Sozi!« Sollte er Schläge riskieren, wegen des Bankiers? Nichts konnte ihm ferner liegen; lieber rief er, mit den anderen: »Putzen soll er!« – übrigens mit etwas gedämpfter, brummender Stimme. Sein Gesicht blieb starr und verächtlich. Er dachte: ›Blöde Hunde! Meint ihr wirklich, euch wird’s künftig besser gehen, weil ihr heute ein paar Juden schikanieren dürft? Glaubt ihr, das ist die Revolution? Dass ihr euch so anschwindeln lassts! Schön blöd müssts ihr sein! Zum Menschenfeind könnt man werden . . .‹
Angesichts des wimmernden alten Mannes, der wie in jammervoller Andacht hockte, ward das Goldene Wiener Herz übermütig und einfallsreich. »Straßenkehren?« rief ein flotter Bursch. »Viel zu mild für einen Steuerhinterzieher! – Den Abort soll er sauber machen!« Dies musste ihm wie eine plötzliche Eingebung in den Sinn und auf die Lippen gekommen sein. Er stand stramm vor Glück, gleichsam einer unsichtbaren Obrigkeit für die Gabe solchen Geistesblitzes dankend. – »Den Abort soll er sauber machen!« Besonders die Damen zeigten sich von dieser neuen Pointe bezaubert. Sie begannen ein wenig zu tanzen: der wiegende Walzerschritt, den niemand der süßen Wienerin nachmacht, ergab sich gleichsam von selbst; die innere Glückseligkeit wollte sich manifestieren. Die jungen Herren aus Berlin und Breslau fanden: Wien ist, wie wir’s uns erträumt haben! So was Goldiges! Nun müssen wir aber beweisen, dass wir nicht die steifen Kerle sind, für die man uns häufig hält. Immer feste druff! Einen Walzer werden wir auch noch schaffen . . .
Die derben Jungens aus dem fernen Norden – rauhe Schale, aber sonst gut beisammen: grad was die süße Wienerin lieb hat! – schmiegten Arme um Taillen, drückten Schnurrbärte an zarte Wangen. Die Halbwüchsigen – musikalisch bis in die Fingerspitzen, und übrigens voll frühreifem Verständnis für Laune und Bedürfnis der Großen – trällerten und pfiffen, alle miteinander: »Wien – Wien, nur du allein – sollst stets die Stadt meiner Träume sein . . .« Eine Melodie, bei der kein Mädchenfuß stillstehn kann! Selbst die Dicke in der blauen Schürze, die den Bankdirektor gebeutelt und damit die ganze Gaudi in Gang gebracht hatte, wiegte sich rhythmisch. Da keiner der Berliner Gäste sich um sie bemühte, ward sie ihrerseits aggressiv; der junge Mann, den sie schüttelte, war lang und dünn; erst fürchtete er sich, weil er meinte: Jetzt folgt wohl gleich die Maulschelle, und alles übrige! Dann ward ihm klar, dass es diesmal wirklich nur um Schabernack ging: da stellte er seinen Mann, nicht schlechter als die Kumpane. Er stürzte sich ins Vergnügen – ein wenig stöhnend; denn das Gewicht der dicken Blauen war kolossal.
So eine Hetz – das hat’s lang nimmer geben! Ja, so fesch hat man sich in Wien wahrscheinlich überhaupt noch nie amüsiert.
»Wien, Wien – nur du allein!« –: Walzer-Taumel bei den Burschen von der SS, der SA, der Gestapo, der Reichswehr, der Polizei, der Hitler-Jugend, den Nationalsozialistischen Studenten-Verbänden. »Zwei Herzen im Dreiviertel-Takt . . .«: das patriotische Hochgefühl vermischt sich wohlig mit den Freuden anderer Art. Österreich ist verloren! Österreich ist verraten! Der preußische Kommiß-Stiefel über unserer Stadt! Hurra! »Das muss ein Stück vom Himmel sein – Wien und der Wein . . .«
Die Wartenden vor dem Konsulat blicken sowohl befremdet, als auch hoffnungsvoll. Sie denken: Jetzt werden sie alle närrisch. Umso besser – dann wird man uns vielleicht in Frieden lassen. – Die Gasse hat sich in einen Ballsaal verwandelt, die allgemeine Munterkeit ist grenzenlos; auch Bernheim fasst neuen Mut: ›Sie singen so frohe Lieder, vielleicht bleibt mir das Schlimmste erspart!‹
Die Walzer-Seligkeit war intensiv; aber doch nicht stark genug, um die Gemüter von den heiter-ernsten Pflichten des Tages völlig abzulenken. Die Halbwüchsigen zwitscherten noch: »Ich weiß – auf der Wieden – ein kleines Hotel . . .«: da schrillte die Stimme der verblühten Haushälterin: »Er soll putzen – die Bedürfnisanstalt soll er putzen!« Sie vermied das rauhere Wort, das der junge Mann mit dem Geistesblitz verwendet hatte und das dann von der Menge wiederholt worden war: »die Bedürfnisanstalt« sagte sie spitz und fein. Glücklicherweise fand sich ein solches Lokal an der Straßenecke. Man schleppte Herrn Bernheim hin. Er ward mit Fußtritten, Püffen und lustigen Worten über das schmutzige Pflaster geschleift. Er blutete. Aus einer Verletzung an seiner Stirn lief das Blut, und es tröpfelte rötlich in den Bart. Ach, wohin war seine Würde! Sein edler, menschenfreundlicher Anstand – wohin! War dies noch derselbe Mann, der seine Gäste – Film-Vedetten, Staatssekretäre, Professoren – am Portal der Villa, schlicht und feierlich, empfangen hatte? Welche Verwandlung! Welch Sturz!
Hat das Goldene Wiener Herz kein Erbarmen? Ist ihnen das Opfer nicht genug entstellt? Wenn sie kein Mitleid kennen – spüren sie denn nicht Ekel, angesichts solchen Elends? Und es riecht nicht gut, wo sie ihn jetzt hinzuknien zwingen.
Sogar etliche Frauen sind mit eingetreten, obwohl die kleine Baulichkeit ein Schild »Für Männer!« trägt. Wer wird zimperlich sein, zu so festlich-orgiastischer Stunde? Die Ungeheure in der blauen Schürze schnuppert munter die scharfen Odeurs, die hier wehen – während die Verwelkte, geniert und freudig erregt, an der Türe stehenbleibt: Eintreten – nein, das würde nicht schicklich sein! Andererseits will sie sich das Schauspiel keineswegs entgehen lassen.
Das diskrete Häuschen liegt inmitten einer kleinen Parkanlage: glücklicher Zufall; denn hier kann man weiter tanzen. Walzer-Texte vermischen sich mit dem donnernden Sprech-Chor: »Den Abort soll er putzen!« Die Melodie setzt sich sieghaft durch: »Nichts Schönres kann’s geb’n – als ein Wiener Lied . . .« Dann dröhnt es wieder: »Den Abort soll er putzen!« Woraufhin die Mädchenstimmen jubeln: »Das haftet im Herzen – und geht ins G’müt!« –: dieses wieder auf das Wiener Lied bezogen.
Wer hatte denn die scheußlichen Geräte bereit, deren Herr Bernheim sich nun bedienen muß? Was man ihm präsentiert, ist ein Nachttopf, und erst stößt man einmal, Spaßes halber, sein Gesicht hinein. Die zähe, dicke Flüssigkeit, mit der sich sein Antlitz beschmiert, hat dunkel gelbliche Farbe und ist ätzend scharf. Aus was für Ingredienzien hat man diesen üblen, fetten Brei gebraut? Er verbrennt die Haut – erst die des Gesichtes, dann auch die der Hände.
Das Bürstchen aber, mit dem er diesen Boden säubern soll, ist derartig klein, dass ringsum das allgemeine Gelächter sich noch steigert. Der Wiener Humor kommt wahrhaft auf seine Kosten; in brüderlicher Eintracht mit dem Berliner Witz darf er sich herzhaft austoben. Es ist ja ein altes Zahnbürstchen, ein zerzaustes, jämmerliches Ding, mit dem der reiche Jud den Boden putzen soll – und was für einen Boden! Die Verwelkte meckert wie eine Ziege über so viel drolliges Malheur. Der Alte stellt sich ungeschickt an, er schnauft und wimmert, es ist wie in einer Posse, im »Theater an der Wien« kann es nicht unterhaltender sein. Die Verblühte tut einen kecken Schritt, weiter in das halbdunkle Lokal hinein, das zu betreten ihr von Natur und Sitte keineswegs bestimmt war. ›Die Sitten ändern sich!‹ beschließt sie kühn. ›Und was die Natur betrifft – nun, ich habe niemals viel Spaß und Vorteil von meinem weiblichen Geschlecht gehabt!‹
Alter Mann auf der beschmierten Erde – du hast Kot und Blut im Barte; du kannst nicht sehen, denn die Augen sind dir von dem verdächtigen Putzmittel verklebt; du kannst nicht sprechen: Scham und Grauen nehmen dir die Stimme; du kannst immer noch leiden, du leidest immer noch. Du bist Hiob, dem der Herr vieles gab, um ihm alles wieder zu nehmen; der Unglücksmann von Uz, den Er mit Aussatz schlug, mit jeglicher Armut, jeglichem Gebreste; den Er stinken ließ und sich im Miste wälzen –: Du bist es, wir erkennen dich. Die platte, fleischige Nase, aus welcher Blut rinnt; der entwürdigte Bart – einst deine ehrbare Zierde –; die zerrissenen Hände, das zerrissene Herz: es ist uns alles vertraut, die großen Bilder der Menschheit kehren wieder, die Situationen des großen Schmerzes wiederholen sich; du wirst die Stimme heben, Erniedrigter, wirst dir die Brust schlagen, klagen und rasen wirst du: Warum tatest du mir dies, Gott mein Herr?
Für diesmal ist es genug; der Klageschrei, die mythische Pantomime der extremen Pein – sie sind dir erlassen; nicht diesen Tieren sollst du sie vorführen, sie würden sie nicht verstehen. Sie sind nur Werkzeuge der Züchtigung, ihre Hirne sind stumpf, und sie wissen kaum, was sie tun. Übrigens bleiben auch ihnen Qual und Schmach nicht erspart, du magst davon überzeugt sein. Es wird für sie Ernüchterung ohnegleichen kommen; wer sich so verirrt und so vergessen hat, wie dieses Volk, für den wird die Stunde des Erwachens schon der Augenblick der Strafe sein – ganz zu schweigen von mancherlei anderer Heimsuchung, die ihnen vorbestimmt sein könnte.
Nun singen sie noch – wie das Geheul von Irrsinnigen gellt es uns in den Ohren. Noch wiegen sie sich, noch stampfen sie vor Vergnügen. Einer von ihnen möchte den besonders Grausamen spielen: er schlägt den Alten, dessen Hände sich nicht mehr regen, mit gewaltiger Kraft auf den Kopf. Gerade dadurch verkürzt er ihm die Qualen: Bernheim verliert die Besinnung. Er sinkt nach hinten, mit verdrehten Augen; die blutigen Flächen der geöffneten Hände nach außen gekehrt – als wollten sie es dem strengen Himmel zeigen: Siehe, meine Hände sind leer! Ich habe nichts mehr, du hast mir alles genommen!
Dunkelheit nimmt ihn gnädig auf. Er sieht nicht mehr die entmenschten Gesichter seiner Verfolger, er muss nicht mehr ihre schaurig-munteren Lieder hören: den obszönen Chorus der Idiotie; das Triumph-Geheul der Verblendeten.

Foto und Teil des Textes: Xenia Marita Riebe

Romanauszug: Klaus Mann

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Kommentare werden durch den WP-SpamShield Spam Blocker geschützt