„Ich will als Mann leben“ beschloss Sigmund Freuds Nichte und nannte sich fortan Tom Freud.

Wenn du möchtest, dass sich Mädchen und Frauen sich auch weiterhin von ihrem angeborenen Geschlecht distanzieren und selbstbestimmt leben können, dann wähle nicht die AfD oder die WerteUnion.

Tom Freud

Die Erinnerung an die liebenswürdigen Unterhaltungen
mit Leuten, die dich schaudern machten,
und in deren Augen dein Spiegelbild verkehrt stand und verzerrt.

Diese Zeilen aus einem erschütternden Gedicht von Tom Seidmann-Freud, das nach dem Doppelselbstmord, den sie und ihr Mann begannen, gefunden wurde, zeigt, wie sehr Tom Freud unter den Zwängen gelitten haben muss, die ihr von einer tief konservativen Gesellschaft auferlegt wurden.
(Das ganze Gedicht „Der süße Tod“ steht am Schluss des Textes)

Kein Freudscher Versprecher

Als Martha Gertrud Freud mit 15 Jahren mitteilte, dass sie den Namen Tom tragen und als Mann leben wolle, war das kein Freudscher Versprecher. Vielmehr hatte sie sich von ihrem angeborenen Geschlecht so weit distanziert, dass sie ihren weiblichen Vornamen für immer ablegte.

“Der Selbst” – Selbstportrait Tom Freud, Bleistiftzeichnung

Tom Freud war ein mehrfach begabter Künstler im weiblichen Körper.

Die Bilderbücher, die Zeugnis von Toms künstlerischer Vielfalt, Wandlungsfähigkeit und schöpferischer Produktivität ablegten, waren nur ein Teil seiner kreativen Aktivitäten. In seinem Nachlass befinden sich zahlreiche weitere Entwürfe und Arbeiten. Seine künstlerische Begabung zeigte sich in allen Bereichen des täglichen Lebens. Er entwarf Möbel, er zeichnete, aquarellierte und radierte fast täglich. Es entstanden Exlibris, Vorlagen für Werbung, Bilderbögen, textile Applikationsvorlagen, Modeentwürfe und Umschläge für Liederpartituren. Er entwarf Spiele und Kinderspielzeug. In seiner Berliner Wohnung gab es eine umfassende Bibliothek, in der Tom vor allem die mathematischen Bücher faszinierten. Aus seiner Begeisterung für Mathematik und Zahlenspielereien entstanden die Vorlagen zu den Rechenfibeln. Aber auch die Natur begeisterte ihn und er besaß ein sorgfältig geführtes Herbarium, das in den Kriegs- und Emigrationswirren verloren gegangen ist. Die Möbel seines Arbeitszimmers und die des Kinderzimmers waren nach seinen eigenen Entwürfen angefertigt worden. Alle Kleider seiner Tochter Angela hatte er selbst entworfen und genäht und sogar Spielsachen und Stofftiere waren von ihm konzipiert und angefertigt worden.

Tom Seidmann-Freud

Tom (Martha Gertrud) Freud war das dritte Kind von Marie Freud und Moritz/Maurice Freud und wurde am 17. November 1892 in Wien geboren.
Ihre Mutter war die dritte der fünf Schwestern des berühmten Psychoanalytikers Sigmund Freud. Da Marie ihren Cousin heiratete, blieb der Familienname Freud erhalten. Auch Tom löste sich viele Jahre später – nach ihrer Eheschließung mit Jakob/ Jankew Seidmann – nicht vom Namen Freud, was zu damaliger Zeit ein sehr ungewöhnlicher Schritt war, und hieß bis zu ihrem frühen Freitod Tom Seidmann-Freud.
Toms Cousine Anna Freud schrieb über sie/ihn: „She was an extremely gifted girl, but rather hated to be female and therefore changed her name to a male one.“
Auf Familienbildern, die die drei Schwestern zeigen, fällt das Kind Martha Gertrud durch seinen ernsten, rätselhaften Blick auf, während vor allem die Schwester Lilly Lebenslust und Schönheit ausstrahlt.

Tom hatte eine intensive und vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Vater und begleitete ihn häufig auf Geschäftsreisen, die ihn mehrmals im Jahr nach London führten. Nach dem Ende ihrer Schulzeit verbrachte Tom ein halbes Jahr in der englischen Hauptstadt. Sie war 17 Jahre, als sie 1910/11 eine Londoner Kunstschule besuchte. Ihre künstlerischen und intellektuellen Fähigkeiten waren in der Familie schon früh aufgefallen. Aus ihrer Zeit in London sind zwei nicht veröffentlichte Bücher mit Aquarellen erhalten, deren Qualität deutlich Toms gestalterische Begabung zeigt. Die Illustrationen dieser beiden Werke sind im reinsten Jugendstil gezeichnet und bestechen durch zarte Aquarellfarben.
Nach ihrer Rückkehr aus London schrieb sich Tom Freud an der Unterrichtsanstalt des Königlichen Kunstgewerbemuseums in Berlin Charlottenburg ein. Sie studierte Zeichnen nach der Natur, Tierzeichnen, dekorative Malerei, Radierung und Druckgrafik und Stein- und Kupferdruck. Daneben lernte sie auch Schriftzeichnen, Akt-Zeichnen und Modellieren, aber das Aquarell sollte ihre bevorzugte Technik bleiben.
Schon im Dezember 1913 fand die erste Ausstellung mit Arbeiten von Tom Freud statt, unter dem Titel „Ausstellung von neuartigem Kinderspielzeug und Entwürfen zu Bilderbüchern von Tom Freud“.
Bei dieser Gelegenheit wurde auch „Das Baby-Liederbuch“, Toms erstes veröffentlichtes Bilderbuch im Verlag Reuß & Pollack, vorgestellt, das beim Publikum großen Anklang fand.
Im Jahre 1914 veranstaltete Tom mit ihrer vier Jahre älteren Schwester Lilly „Märchennachmittage“ in Berlin. Lilly, Schauspielerin und Rezitatorin, las Märchen und Kindergedichte vor, die Tom mithilfe einer Laterna Magica illustrierte. Tom zeigte auch Lichtbilder zu eigenen Geschichten.
Die Jahre des Ersten Weltkriegs verbrachte Tom Freud in Berlin. Dort entfaltete sie ihre vielseitigen Interessen und Ideen. Sie beschäftigte sich mit Entwürfen zu ihren späteren Kinderbüchern. 1918 erschien bei Georg W. Dietrich in München „Das neue Bilderbuch“ von Tom Freud in der Reihe „Dietrichs Münchener Künstler-Bilderbücher“. Es wurde vom Verleger mit hohen Erwartungen angekündigt und die Kritik fiel sehr positiv aus. Dieses Bilderbuch ist typisch für Toms Frühwerk. Es zeigt alle Elemente des Jugendstils und übt auf den Betrachter eine „ornamentale Ruhe“aus. Gleichzeitig arbeitete Tom Freud an den Bildtafeln zu „David the Dreamer“, der 1922 in Boston erschien.
Die Gestaltung ihrer Bilderbücher in Text und Illustration wurde durch die Psychoanalyse nachhaltig beeinflusst, denn Tom Freud interessierte sich lebhaft für deren Entwicklung. Dabei half ihr nicht nur die familiäre Nähe zu ihrem Onkel Sigmund, der ein häufiger Gast in Berlin war, und zu dessen Tochter Anna Freud, einer Psychoanalytikerin. Auch ihr langjähriger Kontakt zum Hamburger Psychologieprofessor William Stern beeinflusste sie.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ging Tom Freud nach München.

Dort wohnte sie bei Familie von Horn, deren Tochter sich an sie erinnert: Tom Freud war eine schlanke, hochgewachsene Dame mit dunklem Bubikopf. Sie war freundlich, aber sehr scheu, und doch hatte sie des Öfteren Besuch.
In München fand sie Kontakt zu einem intellektuellen Kreis junger jüdischer Studenten, zu denen Gerhard Scholem, sein Vetter Heinz Pflaum und Schmuel Agnon gehörten. Scholem, in derselben Wohnung lebend, beschrieb Tom Freud wie folgt:
Am Ende des Korridors hauste die Zeichnerin und Illustratorin Tom Freud, eine Nichte Sigmund Freuds, auch sie eine der unvergesslichen Figuren jener Jahre. Tom war eine ans Geniale grenzende Illustratorin von Kinderbüchern, zum Teil auch deren Verfasserin. Sie lebte sozusagen nur von Zigaretten und ihr Zimmer war meistens in Qualm gehüllt. Sie war eine authentische Bohemienne, hatte nicht wenige Beziehungen zu Künstlern und Schriftstellern, und in ihrem Zimmer habe ich ein erbittertes Gespräch über den Zionismus geführt.
Im Sommer 1920 ging Tom Freud zurück nach Berlin und lebte in der Wohnung ihrer Eltern. Nur drei Monate später starb ihr Vater plötzlich und unerwartet an einer „Herz-Attacke“.
Trotz dieses Schicksalsschlags fand sie Anschluss an einen Kreis engagierter Schriftsteller und Literaten. Schließlich lernte sie ihren zukünftigen Mann, Jakob/Jankew Seidmann, einen jüdischen Schriftsteller und Journalisten, kennen. Tom und Jankew heirateten 1921. Sie wohnten anfänglich in der elterlichen Wohnung.

Tom Seidmann-Freud mit Tochter Angela/ Awiwa

Am 21. Juli 1922 wurde Toms einzige Tochter Angela/ Awiwa geboren. Ein Jahr darauf erschütterte wieder ein tragisches Unglück das Leben der Familie: Tom verlor ihren Bruder Theo, der bei einem Badeunfall ums Leben kam. Tom widmete dem verunglückten Bruder ihr Kinderbuch „Die Fischreise“, das 1923 erschien.
Jankew Seidmann gründet 1924/25 den Peregrin-Verlag, in dem die beiden expressionistisch zu nennenden Bilderbücher Tom Seidmann-Freuds „Die Fischreise“ „Hasengeschichten“ erschienen. Insbesondere die Illustrationen in „Die Fischreise“ weisen Stilelemente der Abstraktion und flächigen Reduktion auf. Sie erinnern an Zeichnungen von Paul Klee und Lyonel Feininger. Sie bestehen aus wenigen Bildelementen und sind auf den zentralen Bildinhalt konzentriert.

Tom Freud – Illustration aus “Die Fischreise”

Neben diesen Bilderbüchern veröffentlicht Jankew Seidmann in seinem Verlag vor allem Übersetzungen jüdischer Religionsphilosophen; er beherrschte das Hebräische meisterhaft und führte Tom in diese Sprache ein.
Auch Toms Bilderbücher wurden ins Hebräische und ins Russische übersetzt, was den Kreis der Leserschaft vergrößerte, denn im Berlin der 1920er Jahre lebten viele Exilrussen, unter anderem einige hebräisch schreibende russische Dichter, die durch die Intervention von Maxim Gorki Sowjetrussland verlassen konnten.
Während die deutsche Ausgabe von 1921 noch voll im Jugendstil-Duktus illustriert ist, gestaltet Tom die Illustrationen zur hebräischen Ausgabe 1922 neu. Ihr Stil wandelt sich zu einem vereinfachten, reduzierten Bildausdruck, der klar im Zeichen der „Neuen Sachlichkeit“ steht. Alle nach 1922 entstandenen Bilderbücher sind von diesem neuen Stil geprägt, der zum unverwechselbaren Erkennungsmerkmal der Illustrationskunst von Tom Seidmann-Freud wurde.

Vier Generationen: von links: Angela, Tom, Amalie und Marie Freud

Am 18. August 1925 wurde mit allen Angehörigen der großen Freud-Familie der 90. Geburtstag von Amalie Freud, Tom Seidmann-Freuds Großmutter und Sigmund und Marie Freuds Mutter, gefeiert. Die dreijährige Angela durfte der Urgroßmutter ein Glückwunschkärtchen überreichen, das Tom zu diesem Anlass entworfen hatte.

Von Oktober bis Januar 1927 verweilte Tom Seidmann-Freud in Wien, wo sie offenbar Gespräche mit ihrer Cousine Anna Freud (Sigmund Freuds jüngste Tochter) führte. Über diese Gespräche berichtete Anna am 4. Januar 1927 in einem Brief, der aus einer psychoanalytisch-therapeutischen Perspektive geschrieben ist, an Max Eitingon:
Ich habe nur einige Gespräche mit ihr (Tom) geführt und habe ihr danach zu einer Behandlung geraten. … Ich wollte mich auch – gerade der Verwandtschaft wegen – nicht zu tief mit ihr einlassen. Was mir gegen eine Behandlung sprechend auffiel, war nur Folgendes: Sie hat seit langem eine gewisse Neigung zum Selbstmord, war einmal in der Jugend sehr nahe daran; und damit hängt mein Eindruck zusammen, dass sie nicht sehr viel Willen zum Gesundwerden aufbringen wird … Früher hatte sie eine große natürliche Wärme und Güte, aber davon ist jetzt viel weniger zu spüren.
Tom Seidmann-Freud hatte sich bereits in Berlin eine eigene Welt geschaffen, die der Wiener psychoanalytischen Freud-Familie eher verschlossen blieb. Sie fand in Herbert Stuffer, einem fantasievollen und mit künstlerischem Gespür ausgestatteten Kinderbuchverleger, ihren kongenialen Geschäftspartner. Der gleichaltrige Stuffer war an Tom herangetreten, um sie zur Mitarbeit in seinem jungen, 1926 in Berlin gegründeten Kinderbuchverlag zu gewinnen.
Den Sommer 1929 verbrachte Tom Seidmann-Freud mit ihrer Tochter in Österreich in Grundlsee. Dort schloss sie die Arbeit an „Das Zauberboot“ ab und entwarf die Spielfibeln. Geplant waren zwei Schreibfibeln und eine Rechenfibel. Die Arbeit daran verlief in engem Kontakt zwischen Tom und ihrem Verleger Herbert Stuffer, was durch zahlreiche Briefe dokumentiert ist. Die Manuskripte wurden fertiggestellt. Der Erscheinungstermin der ersten Spielfibel „Hurra, wir lesen! Hurra, wir schreiben!“ war auf das Frühjahr 1930 angesetzt. Diesen Termin aber erlebte Tom nicht mehr.
Die Fibeln erschienen in den Jahren 1930–1932 unter der sorgfältigen Betreuung durch Herbert Stuffer, für den der unerwartete Tod Tom Seidmann-Freuds persönlich wie geschäftlich eine tiefe Lücke riss.
Toms Spielbücher und Fibeln waren erfolgreich und ihre ästhetische Gestaltung fand höchste Anerkennung. 1930 wurden die „Spielfibel Nr. 1“ und „Das Zauberboot“ unter die „50 schönsten Bücher“ in Deutschland gewählt. Auch wurde in der Reihe der „50 best gedruckten Bücher“ aus 35.000 Neuerscheinungen Tom Seidmann-Freuds „Buch der erfüllten Wünsche“ ausgewählt. Wie stark das Echo auf den Inhalt vor allem der vier Spielfibeln in Deutschland war, zeigen am besten Walter Benjamins differenzierte und sorgfältige Besprechungen in der Frankfurter Zeitung.

In dieses intensive, von schöpferischen Ideen und Arbeiten ausgefüllte Leben brach mit dem unerwarteten Freitod ihres Mannes Jankew am 19. Oktober 1929 die Katastrophe herein.

Grete Fischer (Journalistin und Pädagogin) schildert das Geschehen so:
…. Jankel hatte ursprünglich, um ihr zu helfen, einen kleinen Verlag aufgemacht, der nicht weiterging, dann fing er ein Unternehmen an, um eine große jüdische Enzyklopädie herauszugeben. Die Anlage muss gut gewesen sein, denn sie wurde später, ich glaube in Amerika, zu Ende gebracht. Zunächst aber saß Jankel eines Tages mit dem Bücherrevisor über seinen Rechnungen und erfuhr plötzlich, dass er bankrott war. Der Schock muss dem armen ehrlichen Menschen alle Besinnung geraubt haben. Anstatt sich mit seinen Gläubigern, meistens Freunden, in Verbindung zu setzen und zu beraten, gab er alles verloren. Er schickte Tom mit dem Kind weg, da sie irgendwo eingeladen waren, versuchte sich die Pulsadern aufzuschneiden, und als ihm das zu langsam ging, hängte er sich auf. Tom fand ihn, als sie nach Hause kam. Ihr erster Impuls war, mitzusterben. Sie konnte nicht ohne ihn leben. Aber man nahm ihr jede Möglichkeit dazu. Freunde und Verwandte umringten sie. Sie kam zum Grabe, fast körperlos unter den schwarzen Schleiern, taumelnd, völlig fassungslos.
Man brachte sie nach Hause, und die Freunde bildeten eine Wache mit regelmäßiger Ablösung an ihrem Bett. …Tom schlief nicht, sie sprach ununterbrochen. Es war nicht möglich, ihrer Klage etwas zu entgegnen. Auch als sie Jankel anklagte – er hätte sie nicht verlassen dürfen – er hätte sonst immer an sie gedacht – warum nun nicht mehr? Er war schwach geworden; hätte man ihr sagen sollen, dass sie eben zu schwer für ihn geworden war?
„Warum wollt ihr mich nicht sterben lassen?“, klagte Tom. „Wer hat denn ein Recht zu verlangen, dass ich lebe? Das Kind braucht mich nicht, ihr wird es ohne mich besser gehen. Ich bin doch nichts mehr, ich kann doch nichts mehr!“ … Tom hat das einzige Mittel angewendet, das ihr geblieben war: Sie verweigerte jede Nahrung. Nach drei Wochen war sie, von jeher überzart, so schwach, dass sie ins Krankenhaus musste.
Dazwischen ein 7jähriges Mäderl, das aussieht wie eine kleine Elfe. Jetzt ist der Vater tot, die Mutter in einem Sanatorium, damit man sie bewachen kann. Das Kind ist für den Augenblick bei Lampls.
Jetzt kommt noch der geschäftliche Zusammenbruch über Tom und was dann noch aus dem Trümmerhaufen bleibt, wird man erst sehen.

Jüdischer Friedhof in Berlin, Weißensee

Jankew Seidmann wurde am 23. 10. 1929 auf dem jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee begraben. Toms Tochter Angela wurde in befreundeten Familien untergebracht. Immer noch bestand die Hoffnung, dass sich Tom von diesem Schicksalsschlag erholen würde. Sie arbeitete auch im Krankenhaus weiter an ihren Bilderbüchern. Sie schrieb noch am 21. Dezember 1929 aus dem Sanatorium an ihren Verleger.
Aber Tom erholte sich nicht.
Am 4. Januar 1930 schrieb sie an Helene Zadek: „Liebe gute Lene, ich danke Dir sehr für Deine lieben Briefe. Ich konnte an niemanden schreiben. Jetzt bin ich vier Wochen weg. Ich bitte Dich sehr, bring mir das, was Du mir angeboten hast. Es gibt keinen anderen Weg für mich und vor dem Fenster oder dem Zug habe ich noch immer Angst. Sage niemand von diesem Brief. Dir alles Gute. Tom.“
Der Entschluss, aus dem Leben zu gehen, stand fest, und wie so häufig nach getroffenen Entscheidungen kehrte scheinbare Ruhe ein. Die Umwelt interpretierte diese Ruhe falsch. Im Krankenhaus, erinnerte sich Grete Fischer, in offenbar vernünftiger Pflege, fing sie an, sich zu erholen. Sie gab ihren Widerstand auf, ihre Verzweiflung ebbte ab, man sagte mir, sie habe begonnen, gierig zu essen. Sie wollte gesund werden.
Doch für Tom gab es nur noch den Weg in den Tod, den sie in ihrem Gedicht „Der süße Tod“ in Worte fasste. Tom Seidmann-Freud starb am 7. Februar 1930 im Krankenhaus Neukölln an einer Überdosis Tabletten.

Im Manuskript der Spielfibel Nr. 2, das Herbert Stuffer als Hinterlassenschaft aus dem Krankenhaus zurückerhielt, fand sich ein Text von Tom, der in einem erschütternden Monolog Verzweiflung und Einsamkeit ausdrückte.
Ich muss einen Brief schreiben, aber ich weiß nicht, an wen ihn zu adressieren – Mein Herz ist voller Bedrückung. Und der Weg von meinem Herzen zu dem weißen Papier ist sehr leicht. Nun sitzen 1000 Kinder und drehen und ziehen und besehen die glücklichen Leute, die in dem gefüllten Haus wohnen. Und sie besehen den Specht und den Orakelfisch und Robert, den glücklicheren Bruder – und ich liege hier elender, als tot und trauriger, als zu sagen und ärmer, als die kalten und kunstlosen. Wenn es darauf ankommt, werde ich sehr mutig sein, aber nun fliegt mein Mut ins Leere und es ist nichts da als die Traurigkeit, in die ich versinken werde, als die Armut, die um mich steigt in einer Welt, die uns beiden nicht gefiel. O zu fliehen, wenn es einen Ort gäbe der Zuflucht! Wenn es Rast gäbe auf dem schrecklichen Wege, der sich zu lange ausdehnt und dessen Ziel zu wissen, so bitter ist.

Der süße Tod
Magnete ziehen die Stacheln aus der Brust,
Steine und Geröll von den Hügeln des Herzens verschwinden,
der Beschwer, Glieder und Organe und Nerven zu halten, enthoben,
Leicht wirst du sein, leicht, leicht!
Die Erinnerung an die schlaflosen Nächte ist fort,
und die Erinnerung an die Wohnungsnot,
und an die schweren Tage,
wegen der hässlichen sozialen Verhältnisse,
und dem Mangel an Geld,
die Erinnerung an die liebenswürdigen Unterhaltungen
mit Leuten, die dich schaudern machten,
und in deren Augen dein Spiegelbild verkehrt stand und verzerrt,
die Erinnerung an die tägliche Zeitung
voller Schrecken und voller Gottlosigkeiten
und in miserabler Sprache geschrieben,
und an den Steinhaufen Stadt,
und an die Menge der unnützen Worte
und an alles.

Süß wird er sein
wie ein Tropfen reiner Speise auf deinen Lippen,
wie Sonne an einem kühlen Tag,
wie das Meerwasser an deinen Füßen
an einem Tag der Hitze,
wie nach verwirrter Wanderung die Rast,
wie Einkehr

Toms Tochter Angela Seidmann wurde von ihrer Tante Lilly und deren Mann Arnold Marlé adoptiert. Damit wurde ein letzter Wille Toms erfüllt, die ausdrücklich die Adoption ihrer Tochter durch Anna Freud verboten hatte. Angela lebte mit der Familie Marlé bis zu ihrem 11. Lebensjahr in Hamburg. Sie emigrierten 1933 gemeinsam nach Prag. Im März 1939 trennten sich ihre Wege. Angela Seidmann, von da an hebräisch „Awiwa“, verließ mit einer Jugend-Auswanderungs-Gruppe, der „Youth Alija“, 14 Tage vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei Europa und emigrierte nach Palästina. Die Familie Marlé konnte in letzter Minute nach England entkommen. Tom Seidmann-Freuds Mutter Marie wurde 1942 in das Vernichtungslager Treblinka verschleppt. Ihr genaues Todesdatum ist unbekannt.

Text: Xenia Marita Riebe

Textquelle und Fotos: LUZIFER-AMOR Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse – Artikel Barbara Murken »… die Welt ist so uneben …« Tom Seidmann-Freud (1892–1930): Leben und Werk einer großen Bilderbuch-Künstlerin

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