Je suis la Tour Eiffel
Neulich war ich in Paris. Ich wohnte in dem kleinen drei Sterne Hotel Beaugency im 7. Pariser Arrondissement, auch Arrondissement du Palais Bourbon genannt. Ich kenne das Hotel von früheren Aufenthalten in Paris und hatte es nun wieder ausgewählt, weil ich mich darauf freute, meinen Blick aus dem Zimmer im 4. Stock, über die Zinkdächer bis zum Eiffelturm schweifen zu lassen. Und kaum war ich ans Fenster getreten, da sah er mich auch schon an, grüßte scheinbar zu mir herüber, so als wolle er sagen: „Schön, dass du wieder einmal in Paris bist.“ Ja, und genau das war es auch. Es war herrlich, wieder in Paris zu sein, denn Paris ist unter allen Städten, die ich je besuchte, die bezauberndste.
Kaum eine halbe Stunde später war ich auch schon unterwegs. Ich schlenderte durch die Straßen mit ihren schönen Wohnhäusern, die von der Abendsonne beschienen wurden, deren Strahlen gerade durch ein Loch in einem ansonsten dramatischen Himmel fielen. Wie ein „Projecteur“ hoben diese Einzelheiten hervor, die sonst nur zu leicht in den vielen Eindrücken untergehen, die in Paris auf den Besucher einströmen. Ich nahm die geschmiedeten Balkongitter wahr, die bei allen Häusern auf der zweiten und fünften Etage die durchgehenden Balkone absichern.
Baron Georges-Eugène Haussmann
Dass die Häuser an den Boulevards im 7. Pariser Arrondissement, einem Stadtviertel für die wohlhabenden Bürger von Paris, einen derart einheitlichen Baustil aufweisen, geht auf Baron Georges-Eugène Haussmann zurück, der von 1853 bis 1869 Präfekt von Paris war. Im Auftrag des Kaisers Napoléon III leitete er die in ihren Ausmaßen alles übertreffende Restrukturierung der Französischen Hauptstadt. Der Kaiser wollte die in ihrem Kern noch mittelalterliche Stadt Paris in eine moderne Hauptstadt mit großzügigen Straßenzügen, öffentlichen Parks und Kanalisationen umgestalten. Sein Vorbild war London, wo er einige Jahre verbracht hatte. Baron Haussmann bekam vom Kaiser alle Freiheiten und so schlug er breite Schneisen in das mittelalterliche Paris, das dadurch größtenteils für immer zerstört wurde. Durch seine rigorosen Maßnahmen, die oft kritisiert wurden, legte Baron Haussmann ein endgültiges und dauerhaftes Erscheinungsbild der Stadt Paris für die nächsten Jahrhunderte fest. Er wollte, dass das städtische Gesamtbild Vorrang vor der Architektur hatte und dass sich die Gebäude nach strengen städtebaulichen Regeln in das Straßenbild einfügten. Auch Monumente hatten sich in das einheitliche Stadtbild einzuordnen. Sie sollten nicht isoliert dastehen, sondern dienten dazu, die wichtigsten Punkte der Stadt zu betonen. Die Wahl des Baustils hing von der Funktion des Gebäudes ab. Kirchen sollten neugotisch, neuromanisch, neo-byzantinisch errichtet werden, während die Bürgerhäuser im Stil der Neo-Renaissance oder Neoklassik gebaut wurden.
Haussmann forderte von Anfang an Bauvorschriften über Ausführung, Höhe und Geschosszahl. Oft legte er die Baumaterialien je nach Viertel persönlich fest. Er bevorzugte eine ästhetische Abstufung, parallel zur sozialen Abstufung. Alle Gebäude, von den Mietshäusern für die Arbeiter und kleinen Händler, bis zu den herrschaftlichen Häusern auf den Boulevards, kennzeichnen bis heute immer wiederkehrende Grundelemente zusammen mit fein variierenden Details. So gab Haussmann auch den bürgerlichen Häusern im 7. Pariser Arrondissement einen bestimmten Stil. Erbaut aus den typischen hellen Steinquadern (franz: „pierre de taille“) besitzen die Gebäude einen durchgehenden Balkon auf der zweiten und fünften Etage und die Mansardendächer haben Dachluken, welche Licht in die Zimmer des Dienstpersonals (franz: chambres des bonnes) ließen.
Die Gebäude, die an den viel befahrenen Boulevards liegen, werden alle 10 bis 15 Jahre von den Spuren der Luftverschmutzung gereinigt. So wirken die beinahe 150 Jahre alten Häuser bis heute sauber und gepflegt, was nicht nur dem 7. Arrondissement einen Flair von Gediegenheit verleiht.
Welch ein Glück, denke ich bei meiner Betrachtung der Gebäude, dass sich der deutsche Stadtkommandant von Paris, General Dietrich von Choltitz dem Befehl Adolf Hitlers widersetzte, und am 25. August 1944 kapitulierte ohne Paris zu verteidigen. Hätte er Hitlers Befehl entsprochen, Paris „nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen“ zu lassen, könnten weder ich, noch Millionen von Touristen, die Paris Jahr für Jahr besuchen, heute diese schöne Stadt mit ihren bezaubernden Bauwerken genießen.
Nach einem letzten Blick hinauf zu einem sonnenbeschienenen Dachgarten, biege ich um die Ecke des nächsten Straßenzugs und da ist er wieder, der Eiffelturm. Neugierig scheint er über die Dächer in die Straßen zu schauen.
Über die Rue de Grenelle gelange ich zum Park Champs de Mars, an dessen Ende, nahe dem Seineufer gelegen, der Tour Eiffel steht. Obwohl das Wetter für einen Tag im August nicht besonders einladend ist, es ziehen immer wieder Regenschauer über Paris, ist der Park voller Menschen. Einige haben es sich auf dem Rasen bequem gemacht, andere flanieren über die geometrisch angelegten Wege, die nach bekannten Persönlichkeiten benannt sind. Aus Afrika stammende Straßenhändler versuchen Eiffeltürme im Kleinformat an die Touristen zu verkaufen und haben immer wieder Erfolg. Am Eingangsbereich zum Westpfeiler warten Besucher geduldig in einer Schlange. Leider werden sie heute, wegen der allgegenwärtigen Terrorgefahr, an Sicherheitsschleusen auf gefährliche Gegenstände durchsucht, was die Wartezeiten erheblich verlängert. Ein Absperrgitter verunziert den Bereich unter dem Turm und hindert die Besucher daran, unter dem Eiffelturm hindurch bis zur Seine zu gehen. Ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen dies ohne weiteres möglich war. Diese Mal habe ich mich gegen eine Besteigung des Turms entschieden und genieße stattdessen seine Präsenz. Ich schaue an ihm herauf, fühle meine eigene geringe Größe vor dem 324 Meter hohen Stahlbauwerk, der bis 1930 das höchste Gebäude der Welt war. Heute rangiert er in der Liste der höchsten Gebäude nur noch auf Rang 77.
Weil ich Hunger bekomme, löse ich mich vom Fuß des Turms und schlendere durch den Park zurück. Ich gehe vorbei an der Ecole Millitaire zu einer Brasserie, die an der Ecke des Place de l’École Millitaire liegt. Hier esse ich eine herrliche Tarte aux pommes und trinke einen sündhaft teuren Café au lait. Wie schön ist es, hier zu sitzen und die Menschen vorbeischlendern zu sehen. Pariser Bürger unterscheide ich leicht von Touristen, doch gleichgültig, woher die Leute kommen und wohin sie unterwegs sind, alle scheinen bester Laune zu sein. Auch der Kellner ist sehr freundlich und ich fühle mich wohl in „meinem“ Paris.
Ob sich das Bistro, in dem diese dramatische Szene aus meinem Roman „Unter dem Windrad“ spielt, auch im 7. Pariser Arrondissement befindet, ist nicht gesichert.
Eine halbe Stunde später fasste Lara den Mut und trat in das Bistro ein. Ohne sich umzusehen ging sie direkt auf die Theke zu und bestellte einen Pernod. Ihre Armeetasche stellte sie lässig auf den Barhocker neben sich und wartete darauf, was geschehen würde. Es dauerte nicht lange, bis Jean-Pierre sie entdeckte, denn sie hörte, dass er zu Cécile sagte: „Schau mal da drüben. Die Frau sieht aus wie Lara.“
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Am späten Nachmittag mache ich mich auf den Weg zum Seineufer. Ich überquere den Fluss über den Pont Alexandre III und gehe auf das Grande Palais zu. Dort vorbei gelange ich zur Avenue des Champs-Élysées und sehe den Arc de Triomphe im gelben Sonnenlicht vor einem dunkel verhangenen Himmel. Heute ist mir das Glück hold, und es öffnen sich immer genau im rechten Moment die Wolken für einen kurzen Augenblick. Ich verweile noch kurz in einem Park am Rande der Champs-Elysées und mache mich dann auf dem Rückweg über die Brücke Pont des Invalides. In einer kleinen Nebenstraße kehre ich in eine Crêperie ein und esse dort in Ruhe eine Crêpe aux champignons et aux fromages und ein weiteres Stück Tarte aux pommes. Dazu gibt es wie immer einen Rotwein. Dann erhasche ich auf der Rue Saint- Dominique in Höhe der Kirche St. Pierre du Gros Caillon noch einmal einen Blick auf den Eiffelturm. Neugierig scheint er über die Häuser zu schauen. Will er wissen, was ich so treibe. Ich grüße ihn freudig und biege ab in die Rue Cler.
Abends sitze ich mit Freunden im Café Central, trinke Rotwein und genieße eine feine französische Zwiebelsuppe. Immer wieder kehren meine Gedanken zum Eiffelturm zurück, von dem ich weiß, dass er über die Häuser schaut und das Café von oben sehen kann. Ich freue mich schon darauf, in mein Hotelzimmer zurückzugehen, denn dann werde ich meinen Freund, den Tour Eiffel, in seinem schönsten Kleid sehen können. Tausend Lichter werden ihn illuminieren und er wird heller strahlen als der Mond, der inzwischen sicher schon aufgegangen ist.
Text und Fotos: © Xenia Marita Riebe
Cécile lachte und zeigte ihm einen Vogel.
„Doch, schau einmal genau hin!“, forderte er sie aufgeregt auf.
Cécile drehte sich auffällig um und sah zu Lara hinüber. Sie schien jetzt auch zu überlegen, wer die Fremde sein könnte.
„Ich weiß, wer das ist!, sagte Jean-Pierre kurz darauf ziemlich laut. „Es ist Laras Zwillingsschwester!“
Und schon kam er zu Lara hinüber. Lara hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. Ihr Herz pochte so laut, dass sie befürchtete, Jean-Pierre könne es hören. Aber sie gab sich völlig gelassen und nippte an ihrem Pernod.
„Entschuldige, bist du Eva Herhausen?“, fragte Jean-Pierre geradeheraus.
„Wer will das wissen?“, antwortete Lara abweisend.
„Ich bin Jean-Pierre, Laras Freund.“
„Laras Freund heißt Mirko“, antwortete Lara ohne aufzusehen.
„Nicht mehr, sie hat sich von ihm getrennt.“
„Und du willst mir erzählen, dass sie jetzt einen Freund in Paris hat?“
Lara drehte sich um und sah Jean-Pierre an. Ihr Herz verkrampfte sich, als sie in seine Augen sah. Wie gerne hätte sie ihn umarmt und ihm gesagt, dass sie Lara sei.
„Ja, das hat sie. Wir sind seit einem Jahr zusammen.“
„Meine kleine Schwester“, sagte Lara ein wenig verächtlich und blies ihre Atemluft aus.
„Ich kann es nicht fassen!“, rief Jean-Pierre aufgeregt. „Cécile, komm mal her. Es ist wirklich Laras Zwillingsschwester.“
Cécile kam herüber und stellte sich als Jean-Pierres Ex-Freundin vor. Das tat Lara gut. Immerhin schien das Verhältnis der beiden geklärt zu sein.
„Mein Gott“, sagte sie. „Du siehst Lara aber ähnlich.“
„Ja, du hast sogar das Muttermal am Hals, genau wie Lara“, staunte Jean-Pierre.
„Habt ihr mich nun genug bestaunt?“, fragte Lara ein bisschen zu schroff.
„Entschuldige. Das ist unhöflich von uns. Aber es trifft uns so überraschend“, antwortete Jean-Pierre und blieb wie angewurzelt vor Lara stehen.
„Komm doch mit rüber zu unseren Freunden“, forderte Cécile Lara auf.
„Warum nicht“, sagte sie und griff nach ihrer schweren Tasche.
Sie wurde den jungen Leuten als Eva, Laras Schwester vorgestellt und Jean-Pierre wollte wissen, wie lange sie schon in Paris sei. Sie erklärte, dass sie gerade eben angekommen sei und noch nach einer Bleibe für die Nacht suchen müsse. Sofort bot Jean-Pierre ihr an, bei ihm und Cécile zu übernachten. Lara zierte sich ein wenig, ließ sich dann aber überreden.
Im Laufe des Abends erzählte sie allerlei Geschichten von ihren Reisen und nach und nach fühlte sie sich immer sicherer in ihrer Rolle. Sie begann sogar Spaß an der Sache zu bekommen und flirtete ein bisschen mit Jean-Pierre, nur um zu testen, wie weit dieser gehen würde. Doch er schien gegen einen Flirt immun zu sein. Lara fiel auf, dass er sich ihr gegenüber völlig anders als sonst verhielt. Kumpelhaft, aber auch bewundernd.
Gegen Mitternacht gingen sie gemeinsam zu Jean-Pierres und Céciles Wohnung. Bei einem letzten Glas Rotwein auf dem Balkon bemerkte Lara wie nebenbei: „Dafür, dass ihr einmal zusammen wart, scheint ihr euch sehr gut zu verstehen. Trennungen gehen nicht immer so glücklich aus. Meiner Erfahrung nach, gibt es fast immer Verletzungen, die erst einmal heilen müssen, ehe man wieder miteinander verkehren kann.“
Cécile antwortete lachend: „Ja, wir haben es geschafft, gute Freunde zu bleiben. Das liegt vielleicht daran, dass wir als Freunde angefangen haben.“
Wenig später zeigte sie Lara das Gästezimmer. Diese erschrak, als sie erkannte, dass es der Raum war, den Jean-Pierre ihr als sein Zimmer gezeigt hatte. Aber sie durfte keine Regung zeigen.
„Und ihr“, fragte sie stattdessen. „Nehme ich euch jetzt nicht den Platz weg?“
„Nein, mach dir keine Sorgen. Das hier ist unser Gästezimmer. Hier übernachten oft Freunde von uns. Wir schlafen nebenan im großen Zimmer.“
„Aha“, sagte Lara, „dann nochmals danke und gute Nacht.“
Als sie allein war, setzte sie sich auf das Bett und grübelte darüber nach, was es hieß, dass Jean-Pierre und Cécile nebenan im großen Zimmer schliefen. Hieß es, dass sie sich einen Raum teilten? Wie sollte sie sich das vorstellen? Hatte jeder von ihnen eine Ecke für sich? Sie musste es herausfinden. Aber wie?
Das ist ja mal eine interessante Sichtweise – das Wahrzeichen von Paris in diesen Perspektiven! Mein nächster Paris-Besuch ist in zwei Wochen, vielleicht kann ich die Serie ergänzen.