Die Zeit in der bildenden Kunst von Xenia Marita Riebe
Bereits in der ersten Gemäldereihe von Xenia Marita Riebe aus den Jahren 1993 bis 1996 finden sich einige Bilder mit Titeln, die einen Bezug zur Zeit haben. Sie gehören zum Zyklus „Höhlenmalerei in Verbindung mit moderner Technik“ und haben Zeitungspapier als Malgrund. Zu sehen sind darauf Figuren aus der Höhlenmalerei der Khoisan vom Hohen Brandberg in Namibia, die von der Künstlerin in die technisierte Welt transportiert wurden. Die Titel lauten „Zeitschleuse“, „Zeitreise“ oder „Die Zu(g)kunft rollt an“.
„Die Zu(g)kunft rollt an“; Drei Khoisan-Frauen unterhalten ein Lagerfeuer auf einem schmalen Areal zwischen drei Gleisen, auf denen drei moderne Züge heranrollen. Ein Khoisan-Jäger kommt mit großen Schritten angelaufen. Er trägt zum Zeichen seiner Stärke einen Bogen und ein großes Messer. Haben die Urmenschen die Zeichen der Zeit erkannt? Oder sind es die modernen Menschen, die immer noch in der Steinzeit verweilen, während sie von der modernen Technik buchstäblich überrollt werden?
Das Bild „Zeitreise“ zeigt eine große Gruppe von Khoisan-Frauen, die waffenstarrend über einen zugefrorenen Fluss wandern. Ihnen folgt ein einzelner Mann mit Pfeil und Bogen, der an seinem Penis den traditionellen Schmuck trägt. Die Gruppe zieht an einer alten Stadt vorbei, an einem Palast, dessen Kuppel in die Form des afrikanischen Kontinents eingebettet ist. Im Hintergrund sind die roten versteinerten Sanddünen zu sehen, die Teile der Landschaft Namibias prägen. Ein Hinweis darauf, dass Europa – wie auch die anderen Kontinente – von Afrika aus besiedelt wurden.
In „Die Zeitschleuse“ steht eine Höhlenfrau auf dem heruntergefallenen Kapitel einer antiken Säule vor einer zerstörten Säulenhalle. Sie steht im Licht, das von oben auf sie herabfällt und sie einhüllt. Ihr Arm ist erhoben und weist auf einen nicht zu identifizierenden Flugkörper. So wird im Bild die Verbindung zwischen der Frühzeit der Menschen, ihrer vergangenen Blüte in der Antike und der Zukunft hergestellt, in der der moderne Mensch vielleicht die Erde verlassen muss, um mit einem Raumschiff einer ungewissen Zukunft entgegenzueilen.
Zwischen den Skulpturen, die Xenia Marita Riebe seit 2003 aus Zeitungspapier kreiert, finden sich auch einige Arbeiten zum Thema Zeit.
Die Skulpturen „Zeitmesser“ aus dem Jahr 2008, zwei hochbeinige Figuren, deren schmale Köpfe je ein Ziffernblatt zeigen, tragen Kleidung aus einer Collage aus Armbanduhren. Alle Ziffernblätter zeigen die gleiche Zeit, das Jetzt. Mit großen Schritten will der Mann der Zeit entfliehen, will vorauseilen in die Zukunft. Aber die Frau versperrt ihm den Weg. Sie möchte die vergangene Zeit bewahren. Die beiden „Zeitmesser“ schauen einander herausfordernd, ja beinahe kämpferisch an. Wer ist stärker, die Vergangenheit oder die Zukunft? Oder zählt nur der Augenblick, das Jetzt?
„Die Hüterin der Zeit“ trägt ein rosafarbenes Kleid mit Redensarten wie „Die Zeit eilt“ oder „Die Zeit läuft ab“. Ihr Umschlagtuch besteht aus einem großen Ziffernblatt, das ihren Rücken ziert. Auf dem Kopf trägt sie einen raffinierten Hut aus einem Ziffernblatt und den Stellschrauben einer Armbanduhr. Was möchte die Frau uns zurufen? „Nutze deine Zeit!“ oder „Genieße dein Leben, bevor deine Zeit abläuft!“ Vielleicht hütet sie aber auch die verstreichende Zeit und damit alles, was wir in bis heute er- und durchlebt haben.
Mit der Skulpturengruppe „Drei mal drei Lebenszeiten, weiblich“ spielt die Künstlerin auf den schnellen Lauf der Lebenszeit an. Von der rosabunten Kinderzeit, über die geblümte Jugendzeit bis hin zum grauen Alter. Jede der drei Figuren der Gruppe trägt die „Haut“ jeder dieser Zeiten. Auch die körperliche Veränderung wird deutlich sichtbar. Der große runde Kopf des kleinen Kindes, aus dem runde Augen schauen (Kindchenschema), die zarte grazile Gestalt der jungen Frau und der verfallene gekrümmte Leib der Alten. So symbolisiert jede Figur für sich und alle drei zusammen die drei Lebensalter, Kindheit, Jugend und Alter.
Das Thema Lebenszeiten ist auch Inhalt eines Gemäldes aus der Reihe „Blueprint“, das Xenia Marita Riebe zum gleichnamigen Theaterstück nach einem Roman von Charlotte Kerner malte. Die Bilderreihe war bei der Uraufführung im Foyer des Theaters Mönchengladbach ausgestellt. Der Titel des Gemäldes lautet „Lebenszeiten“. Im Bild geht es wie in allen Gemälden dieser Serie um das Thema Klonen, das auch zum Hauptthema des Romans „Blaupause“ gehört. Erzählt wird die Geschichte einer Pianistin, die erkrankt ist und sich selbst klonen lässt, um ihr großes Talent nach ihrem Tod zu erhalten. Ihr Klon spielt genauso exzellent wie sie selbst, doch das junge Mädchen entwickelt eine Persönlichkeitsstörung. Als es dem Druck nicht mehr standhält, bricht es aus der Welt der übermächtigen Mutter aus.
Das Bild zeigt in der echten grünen Ecke (Hoffnung) die In-vitro-Zeugung des Klons und in der linken oberen Ecke die Mutter vor dem Schriftzug: „Ein Spiel von Leben und Tod“. Unten links sehen wir die beiden Klone vereint und rechts unten eine Frau mit einem Embryo im Leib, der von einem seltsamen medizinischen Gerät bedroht ist. Die vier Teile des Bildes trennt ein schwarzes Kreuz, auf dem im oberen Teil, einer Todesanzeige gleich, die Pianistin und ihr Klon zu sehnen sind. Den unteren Balken des Kreuzes ziert eine nackte Schwangere, die schützend ihre Hände vor Brust und Scham hält. Den Malgrund bilden Zeitungsartikel. Darin wird über das Klonschaf Dolly berichtet, über eine Gemäldeausstellung mit dem Titel „Mensch und Maschine“ und über „Talente aus der Petrischale“.
Die Collage „Gezeiten“ zeigt einen jungen Mann im Profil. Hinter diesem ist ein Strand bei Flut zu sehen, über den im flachen auflaufenden Wasser Möwen laufen. Andere Möwen fliegen vor dem Gesicht des Mannes herum und erzeugen so einen Eindruck von räumlicher Tiefe. Der junge Mann scheint von Melancholie ergriffen zu sein, sein Blick geht ins Leere. Oder ist er nur verliebt und träumt bei einem Spaziergang am Meer von seiner Liebsten? Wir werden es nicht erfahren.
Die Collage „Wem keine Stunde schlägt“ zeigt eine Armbanduhr mit lauter Nullen auf dem Ziffernblatt, die somit für die Zeitmessung ungeeignet ist. Laut einiger Philosophen gibt es keine reale Zeit, denn sie findet nur im Kopf der Menschen statt. Da der Mensch kein Sinnesorgan für die Zeit hat, kann er sie nur anhand von Ereignissen und Aktionen im Raum wahrnehmen. Ohne Uhren wäre die Einschätzung der Zeit recht grob. Erkennbar in gemäßigten Zonen wären die Jahreszeiten. Die Tageszeit könnten wir am Sonnenstand ablesen. Aber damit wäre unsere Zeitmessung bereits erschöpft. Doch die Stunde des Todes schlüge uns trotzdem. Nur könnte der genaue Todeszeitpunkt nicht präzise festgestellt werden.
„Zeit und Raum“ lautet eine weitere Collage zum Thema Zeit. Ein Rennradfahrer befährt das Ziffernblatt einer liegenden Armbanduhr, die unter einem blauen Sommerhimmel liegt. Der Radfahrer radelt auf ein Gebirge zu, das noch im Morgendunst zu liegen scheint. Dabei zeigt die Uhr bereits 10:08 Uhr. Vielleicht ist sie aber auch am Vorabend um 22:08 stehen geblieben, denn ein Teil der Rädchen aus ihrem Inneren hat sich selbstständig gemacht und dreht nun außerhalb des Gehäuses. Die Taube, die durch das Bild fliegt, geht dies alles nichts an. Sie hat ihre eigene Zeit.
In der Collage „Keine Zeit“ eilen Menschen über die Fahrbahn, um eine Straßenbahn zu erreichen. Sie haben es eilig, haben keine Zeit. Das verdeutlicht nicht nur ihr rascher Schritt sondern auch die Uhr am unteren Rand des Bildes, deren Sekundenzeiger den Takt angibt. Den Ausspruch „Ich habe keine Zeit“, den wir Menschen so häufig anwenden, wird durch eine weitere Uhr in der oberen rechten Ecke der Collage verdeutlicht. Aus einer Uhr fallen sowohl die Zeiger als auch die Ziffern des Ziffernblatts. Heißt das, dass wir keine Zeit mehr haben, wenn wir alle Uhren zerstören? Oder bedeutet der Ausspruch, dass wir nur ein Kontingent an Zeit zur Verfügung haben, das bereits verbraucht ist?
Text, Gemälde, Collagen und Skulpturen © Xenia Marita Riebe
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