Boat People – Skulpturengruppe von Xenia Marita Riebe
Ich will hier den Versuch wagen, eine meiner Skulpturengruppen zu beschreiben und zu erklären.
Bei meiner Bildbefragung des Gemäldes „Das Floß der Medusa“ von Theodore Géricault (1791 – 1824) kam mir die Parallele zu meiner eigenen Arbeit in den Sinn.
Der Maler stellte in seinem Monumentalgemälde, das heute im Louvre in Paris hängt, das Los von 147 Schiffbrüchigen dar, die von den Verantwortlichen auf hoher See ihrem Schicksal überlassen wurden. Nur 10 von ihnen überlebten 1816 die 13 tägige Irrfahrt auf dem Atlantik.
Diese Tragödie war sehr schlimm, aber was sind die 137 Toten der Fregatte Medusa angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen, die zurzeit täglich von Seerettern aus dem Mittelmeer geborgen werden. Man stelle sich vor, dass 250 Menschen allein in den ersten Tagen des Januars 2018 in den internationalen Gewässern vor Libyen ertranken. In der dritten Januarwoche 2018 wurden an nur zwei Tagen 1617 Flüchtlinge aus Seenot gerettet. Zwei von ihnen überlebten nicht, darunter ein Kleinkind.
„Die Wahrscheinlichkeit, die Überfahrt nicht zu überleben, sei gestiegen“, sagt Julia Black von Missing Migrants – ein Projekt der Internationalen Organisation für Migration (IOM) – das sich um die Todesopfer kümmert.
Julia und ihre Kollegen versuchen zu dokumentieren, wieviele Menschen bereits im Mittelmeer gestorben sind. Sie befragen Insassen, zählen Leichen und machen Schätzungen.
„Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein“, sagt Julia Black. „So viele Leichen versinken einfach im Meer, die Menschen gehen einfach verloren, sie verschwinden in der See. Es ist eine riesige humanitäre Katastrophe. Man bedenke, wie viele Familien niemals erfahren werden, was mit ihren Angehörigen geschehen ist.“
Mehr als 15.000 Menschen sind bislang, bei ihrem verzweifelten Versuch nach Europa zu gelangen, auf dem Mittelmeer gestorben. Und diese Schicksale spielen sich sozusagen vor unserer Haustür ab, nämlich im Mittelmeer.
Ousman ist ein junger Mann aus Gambia. Ich habe ihn vor einiger Zeit kennengelernt. Er lebt in Deutschland, ist mit einer deutschen Frau verheiratet und hält sich mit afrikanischen Holzschnitzereien über Wasser. Er hat die Flucht nach Europa überlebt, dabei war sie alles andere als ungefährlich. Er schlug sich auf dem Landweg von Brikama in Gambia, über den Senegal, Mali und Niger nach Libyen durch, ca. 4800 Kilometer über staubige Straßen, auf denen er meist Busse benutzte. Sein Weg führte ihn mitten durch die Sahara, die er ohne die Hilfe von Schleppern nicht überwinden konnte. 14 Tage saß er mit vielen anderen zusammen auf der Ladefläche eines klapprigen LKWs, immer der prallen Sonne ausgeliefert. Er ernährte sich notdürftig von mitgebrachten Schokoriegeln, die in der Hitze in ihren Hüllen flüssig wurden. Wasser hatte er in einem Kanister bei sich, den er immer, Tag und Nacht, fest unter seinen Arm klemmte, aus Angst, er könne ihm gestohlen werden. Während der langen Fahrt durch die Wüste trank er davon immer nur einen ganz kleinen Schluck. Wer wusste schon, wie lange die Fahrt dauern würde? Die Schlepper hatten ihn gewarnt, das Wasser gut einzuteilen. Sie zeigten ihm Knochen, die am Wegrand lagen und sagten, sonst würde er enden, wie diese Menschen, die verdurstet seien. Völlig entkräftet erreichte Ousman Libyen.
Darüber, was er während seines neunmonatigen Aufenthaltes in Tripolis erlebte, kann er bis heute nicht sprechen. Zu schmerzlich sind seine Erinnerungen.
Dann endlich hatte er genug Geld verdient, um sich einen Platz auf einem Boot zu kaufen. Er gab sein ganzes Geld an einen Schlepper und ihm wurde befohlen, sich in einem Gebüsch in der Nähe der Küste versteckt zu halten. Wieder hatte er seinen Wasserkanister bei sich und wieder wagte er kaum, daraus zu trinken. Die Angst war groß. Er hatte Angst davor, dass die Schlepper ihn nie abholen würden, Angst davor, von den patrouillierenden Soldaten aufgegriffen und in ein Lager gesperrt zu werden, Angst davor überfallen, beraubt oder gar ermordet zu werden. In seiner Nähe nahm er noch andere Menschen wahr, aber keiner nahm Kontakt zu ihm auf und auch er versuchte nicht, mit den anderen zu sprechen. Endlich, in der dritten Nacht, tauchte der Schlepper auf und schrie kurze Befehle. Er bedrohte die Flüchtlinge mit einer Pistole und drängte sie zur Eile. Im Wasser vor der Küste lag ein Schlauchboot. Frauen und Kinder durften sofort einsteigen, die Männer wurden gezwungen, das Boot anzuschieben, bis ihnen das Wasser bis zu den Schultern reichte. Erst dann durften sie ins Boot klettern, wobei ihnen die Frauen halfen. Kinder weinten vor Angst und klammerten sich fest an ihre Mütter. Eine Frau war hochschwanger und hielt sich stöhnend ihren geschwollenen Leib. Jetzt startete einer der Schlepper, es waren drei an Bord, den alten Außenbordmotor, der auch stotternd ansprang und sofort heftig zu qualmen anfing. Einer der Schlepper begann damit, ein paar Flüchtlingen die Handhabung des Motors zu erklären. Das war der Anlass zum Argwohn einer Gruppe von jungen Männern aus Togo. Sie hatten gehört, dass die Schlepper oftmals die Boote in Küstennähe verließen und die Flüchtlinge mit defekten Motoren auf das Meer hinausschickten. Die Männer gaben sich kurze Zeichen und blitzartig überwältigten sie zwei der Schlepper. Der dritte sprang ins Wasser und schwamm davon. Die Togolesen fesselten die Schlepper mit Stoffstreifen, die sie aus ihren Hemden gerissen hatten und drängten sie in eine Ecke des Bootes und bewachten sie. Sie hatten ein Messer bei sich, dass sie immerfort drohend vor die gefesselten Männer hielten. Während der langen Überfahrt war jeder der Männer an Bord einmal an der Reihe, die Überwachung zu übernehmen. So auch Ousman.
„Ich saß reglos vor den beiden und hielt das Messer erhoben vor sie hin“, berichtete er. „Das Boot schaukelte mächtig auf den Wellen. Ich hatte große Angst, dass mein Wasserkanister über Bord gehen könne, denn ich konnte ihn nicht mehr richtig festhalten. Aber ohne Wasser wäre ich verloren gewesen. Die Sonne brannte auf uns hinunter, wir hatten keinen Schutz. Die Kinder an Bord weinten beinahe pausenlos und auch die Erwachsenen jammerten viel. In den Nächten war es sehr kalt. Wir froren. Am zweiten Tag begann der Motor fürchterlich zu qualmen. Der Qualm nebelte uns völlig ein und brannte in unseren Augen. Als es am Abend dunkel wurde, begann der Motor zu stottern und setzte plötzlich aus. Alle Versuche, ihn wieder zu starten, misslangen. Wir banden die Schlepper los, damit sie etwas mit dem Motor machen konnten. Aber auch sie wussten nicht, was zu tun sei.
Da wurde es auf einmal ganz still auf dem Boot. Nur ein Kleinkind wimmerte. Wir alle ahnten, dass wir verloren waren. Jeder von uns hatte schon gehört, dass viele Menschen bei der Fahrt über das Mittelmeer sterben. Ich hielt meinen Kanister sehr fest an mich gepresst. Er war für mich im Moment wertvoller als alles andere auf der Welt. Dann kam plötzlich Bewegung in die Schiffbrüchigen. Jemand hatte geglaubt, ein Schiff zu sehen. Alle begannen nun, mitgebrachte Trillerpfeifen zu benutzen, eine der Verhaltensregeln der Schlepper. Ein irrsinniges Pfeifkonzert ertönte. Wer ein Mobiltelefon bei sich hatte, machte es an und hielt es in die Höhe, um die Aufmerksamkeit der Schiffsbesatzung auf uns zu lenken. Wir alle riefen laut um Hilfe. Doch das Schiff war nur Einbildung gewesen. Wir trieben allein auf dem Meer. Keine Rettung war in Sicht. Die Wut und Verzweiflung der Männer richtete sich bald gegen die Schlepper. Sie begannen diese zu schlagen. Ein Tumult brach aus. Einige Männer gingen über Bord und das veranlasste andere, die Schlepper solange an den Rand des Bootes zu drängen, bis sie schließlich ins Meer fielen. Die Angehörigen der Flüchtlinge, die nun im Wasser trieben, schrien verzweifelt deren Namen. Doch keiner von ihnen schaffte es zurück an Bord. Auch mir geschah während dieser Minuten ein großes Unglück. Ich wurde angestoßen, strauchelte und mein Wasserkanister ging über Bord. Ich sah ihn noch ganz kurz an der Wasseroberfläche, aber er sank schnell. In dieser Nacht kam ich noch gut ohne Wasser zurecht, aber als am Morgen die Sonne aufging, begann mich schon bald der Durst zu quälen und nach ein paar Stunden schwoll meine Zunge an und ich glaubte, nun verdursten zu müssen. Aber ich hatte Glück. Eine junge Frau, deren Mann über Bord gegangen war, teilte ihr Wasser mit mir. Sie gab mir die Ration, die für ihren Mann bestimmt gewesen war. So rettete sie mir das Leben. Zu essen hatten wir inzwischen alle nichts mehr. Der Hunger war quälend, aber doch erträglich. Wir alle kannten Hunger aus der Heimat. Er hatte uns durch die Kindheit begleitet und war uns nicht fremd.
Nach weiteren zwei Tagen kam endlich ein Schiff. Es war ein Rettungsboot, das uns aufnahm. Bei dieser Aktion fielen eine Mutter und ihr Kind ins Wasser und ertranken, bevor sie gerettet werden konnten. Sie sanken einfach hinunter zum Meeresgrund und waren verschwunden.
Ich wurde gerettet und an Bord des Rettungsbootes versorgt. Meine Flucht war schrecklich und ich habe furchtbare Dinge erlebt. Aber das Schlimmste war für mich, hilflos auf dem Meer zu treiben, ohne Hoffnung auf Rettung. Und doch würde ich die Flucht immer wieder wagen, denn in meiner Heimat gab es für mich keine Zukunft.“
Ousmans Schicksal ist nur eines von vielen. So wie ihm oder ähnlich ergeht es Tausenden von Menschen, die auf der Flucht vor Armut oder politischer Verfolgung die „Reise“ über das Mittelmeer antreten.
Meine Skulpturengruppe „Boat-People“ soll an das Schicksal der Flüchtlinge aus Afrika erinnern. Dafür habe ich 29 unterschiedliche Skulpturen – Männer, Frauen und Kinder – gearbeitet, die dicht gedrängt auf einer Metallplatte stehen oder sitzen, die ein Boot auf dem Meer symbolisiert.
Die Skulpturen der Gruppe sind den Pneumatophoren der Mangrovenbäume nachgebildet. Diese Atemwurzeln werden vom unterirdischen Wurzelsystem der Bäume ausgebildet, um die Aufnahme von Sauerstoff zu gewährleisten. Da Mangroven in wassergesättigten sauerstoffarmen Böden wachsen, kann der Sauerstoffbedarf des Wurzelgewebes nicht allein durch Diffusion aus der Umgebung der Wurzeln gedeckt werden. Deshalb bilden die Pflanzen Atemwurzeln aus, die in einer großen Vielfalt aus dem Boden wachsen.
Diese Pneumatophoren dienten mir als Anregung zu einer Gruppe von kleinen, verwachsen wirkenden Skulpturen. Sie sind aus Zeitungspapier gefertigt, das ich zuvor mit brauner Acrylfarbe bemalte, und haben kleine Magnete in den Füßen oder den Sitzflächen, mit deren Hilfe sie auf der Metallplatte Halt finden. Die stehenden Skulpturen sind zwischen 14 und 35 cm hoch, während die sitzenden zwischen 11 und 17 cm groß sind. Sie wurden von mir auf einer Metallplatte so arrangiert, dass sie sich einen sehr geringen Platz teilen müssen, indem sie dicht beieinander hocken oder stehen. Damit soll eine Assoziation zu den Menschen hergestellt werden, die in engen überfüllten Schlauchbooten die Flucht von Afrika über das Mittelmeer antreten und oftmals nur mit viel Glück die Küste Europas erreichen. Die anonymisierten, gesichtslosen Frauen, Männer und Kinder sollen beim Betrachter ein Gefühl für die Schutzlosigkeit der Menschen erwecken, die in oft seeuntauglichen Booten das Meer überqueren, um der Verfolgung oder Hoffnungslosigkeit auf dem afrikanischen Kontinent zu entfliehen. Auch die Enge in den überfüllten Flüchtlingsbooten wird hier eindringlich gezeigt.
Weiterhin stehen die 29 Skulpturen für die Mitgliedsstaaten der EU, die es bisher noch nicht geschafft haben, durch die Erfüllung der Aufnahmequote, den Tod der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zu stoppen. Eine Ausnahme bildet hier die Bundesrepublik Deutschland, die als einziges Land Europas eine Willkommenskultur praktiziert hat.
Ich möchte diese Arbeit als Weckruf verstanden wissen und will damit auf die Situation der Flüchtlinge überall auf der Welt aufmerksam machen, insbesondere aber auf das Schicksal der Fliehenden aus Afrika, den sogenannten Boat People.
Text und Fotos: © Xenia Marita Riebe
Lies auch „Das Floß der Medusa“
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