Lesbische Frauen im Nationalsozialismus – Teil I

Du möchtest, dass FLINTA–Personen in Deutschland auch künftig unbeschwert und unbehelligt leben können? Dann wähle keine rechte Partei – vor allem nicht die AfD – und verbreite auch nicht ihre antidemokratischen Inhalte.

Ich möchte hier das Schicksal von drei lesbischen Frauen und ihren Partnerinnen skizzieren. Sie sollen beispielhaft für die vielen anderen Schicksale stehen, von denen wenig oder nichts bekannt ist.

Ilse Totzke – Erkennungsfoto der Gestapo, 1943

Ilse Totzke – denunziert, an Deutschland ausgeliefert, ins KZ Ravensbrück deportiert

Ilse Totzke wurde von Nachbarn aufs Übelste bei der Gestapo denunziert. Nach einem Fluchtversuch in die Schweiz wurde sie von den Schweizer Behörden an Deutschland ausgeliefert. Sie wurde in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert.
Ilse Totzke wird am 4. August 1913 in Straßburg geboren. Ihre Mutter kommt aus einer angesehenen Künstlerfamilie und ist Schauspielerin, ihr Vater ist Dirigent in einem Theaterorchester.
Im März 1932 lebt Ilse in Würzburg. Sie studiert am bayerischen Staatskonservatorium Musik. Dort lernt sie in den Fächern Klavier, Violine und Dirigieren. In Würzburg knüpft sie viele Freundschaften, auch zu Jüdinnen und Juden. Schon seit Anfang der 1930er Jahre trägt Ilse Anzug und Krawatte, dazu eine Kurzhaarfrisur. Wie sie sich selbst identifiziert hat, ist nicht bekannt. Der einzige Ausdruck ihres Selbst wird in der Wahl ihrer äußeren Erscheinung sichtbar, die auf zwei Fotos erhalten geblieben ist. Ihre Frisur wird als „Eton crop” bezeichnet, eine kurze Version des Bubikopfs, der in den 1920er Jahren beliebt ist. Ihr Stil wurde als eine „ungewöhnlich männliche Version” der „Neue Frau”-Mode bezeichnet. Dieser Stil war in der lesbischen Subkultur in den 1930er Jahren beliebt.
Ilse hat große Schwierigkeiten, eine Wohnung zu mieten. Einige „arische” Vermieter lehnen sie als Mieterin ab. Vielleicht weil sie ihr Äußeres nicht mit dem propagierten Frauenbild in Verbindung bringen können, oder weil sie annehmen, dass sie eine lesbische Frau ist. Ihr bleibt daher nur, Wohnungen von jüdischen Vermietern zu mieten. Das macht sie später in den Augen der Gestapo verdächtig.
Mit 21 Jahren erbt Ilse Totzke von ihrem verstorbenen Vater 42 000 Reichsmark. Dies ist ein beträchtliches Vermögen und macht sie finanziell unabhängig.
Am 17. November 1935 hat Ilse einen Unfall mit dem Motorrad und erleidet einen Schädelbruch.
Die Folgen des Unfalls wird sie ihr Leben lang spüren. Oft hat sie starke Kopfschmerzen. Doch so schmerzhaft die Verletzung ist, Ilse kann sie zu ihren Gunsten nutzen. Sie sagt später: „Die Folgen meines Schädelbruchs dienten mir während des Dritten Reiches ständig als Ausrede, um nicht in den Kriegseinsatz eingezogen zu werden. Ich konnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, der Kriegsmaschinerie zu dienen.”
Spätestens im Jahr 1936 ist die Würzburger Gestapo auf Ilse aufmerksam geworden. Für kurze Zeit wird ihre Post abgefangen und überwacht, ohne dass etwas Belastbares gefunden wird. Als Ilse das bemerkt, lässt sie ihre Post an Freunde schicken.
Im April 1938 zieht es Ilse ins Grüne und sie wohnt fortan in einem kleinen Gartenhaus. Dort ist es für die Gestapo schwieriger, sie zu beobachten, und allein das macht sie in den Augen der Gestapo schon verdächtig. Doch die NachbarInnen behalten Ilse im Blick. 1939 wird Ilse vom Konservatorium verwiesen. Sie hat einem Professor gegenüber geäußert, was sie wirklich über Hitler denkt: „Nach Kriegsende wird man diesen Verbrecher, schuldig an so viel Blutvergießen, einfach an die Wand stellen!”

Ilse Totzke – Erkennungsfoto der Gestapo, undatiert

1939 betritt Ludwig Gründel die Gestapostelle der Stadt Würzburg. Er ist wegen Ilse Totzke gekommen, die ihm schon seit längerem aufgefallen ist. Er hat bemerkt, dass Ilse nie Post bekommt, das findet er suspekt. Außerdem berichtet er, Ilse kenne auffällige Personen, eine davon sei eine französische Übersetzerin, ein anderes Mal habe ein „Halb-Jude” sie besucht. Zudem wohnt sie schon zum wiederholten Mal nahe einer militärischen Einrichtung, gegenwärtig neben einem Gebäude der Luftwaffe. Gründel kommt zu dem Schluss: Ilse betreibt sicher Spionage. Die Gestapo notiert sich zwei mögliche Verbrechen: Spionage und Kontakte zu Juden. Beides wird sehr ernst genommen. Es werden ZeugInnen kontaktiert und Ilses ehemaliger Vermieter, Hans Hunsinger, wird vorgeladen. Dieser hat Ilse auch schon unter die Lupe genommen. Er berichtet der Gestapo über Ilse, dass diese eine „Männerhasserin” ist, weil sie ja nie Besuch von Männern bekommt. Das liegt an der zerrütteten Ehe ihrer Eltern, da ist Hunsinger sich sicher. Er zeichnet das Bild einer Außenseiterin, die sich weder in die Hausgemeinschaft, noch in die Volksgemeinschaft einfügen will. Dass sie mehrfach von Jüdinnen besucht wurde, bestätigt er. Am Ende sind es neun Personen, die von der Gestapo zu Ilse befragt werden. Nur drei von ihnen sagen nichts über Ilses Freundschaften zu Jüdinnen und Juden aus. Nachbar Knettel meldet, Ilse gehe abends oft aus und komme erst spät nach Hause. Aufgefallen ist mehreren NachbarInnen auch, dass sie keiner regelmäßigen Arbeit nachgeht. Das stimmt, und ist auf ihre Erbschaft zurückzuführen. Alles in allem wirkt Ilse auf ihre Mitmenschen wohl sehr auffällig. Viele nehmen Anstoß an ihrem Äußeren. Ein Nachbar gibt sogar zu Protokoll, dass Ilse „einen jüdischen Einschlag” habe.
Im Mai 1941 wird Ilse Totzke erneut denunziert, diesmal durch einen anonymen Brief an die Gestapo in Würzburg. Der Brief enthält die Behauptung, Ilse unterhalte eine sehr intime Beziehung zu einer 15 jährigen Jüdin namens Else Schwabacher. (Else Schwabacher ist in Wahrheit 35 Jahre alt und eine mit einem Juden verheiratete „Arierin“) Der Denunziant wusste zu berichten, dass Ilse fast täglich zu Besuch erscheine und erst viele Stunden später am Abend wieder gehe. Sie habe „keine normale Veranlagung” und wolle die junge Frau wohl verführen. Die Empörung des Denunzianten bezieht sich klar erkennbar auf Ilses Sexualität. Doch wesentlich relevanter als die Meldung über die Existenz einer lesbischen Frau ist für die Gestapo der Verdacht, dass ein sozialer Kontakt zwischen der vermeintlichen Jüdin Else und der „Arierin” Ilse besteht.
Am 5. September 1941 durchsucht die Gestapo Ilses Wohnung. Man findet keine Beweise für Spionage oder Sabotage bei ihr, aber „jüdische” Bücher, darunter einen Roman des jüdischen Schriftstellers Sholem Asch und eine Biografie von Theodor Herzl, dem Begründer des politischen Zionismus. Grund genug für die Gestapo, sie mitzunehmen und zu verhören. Sie gibt zu, dass sie in Kontakt zu Jüdinnen und Juden steht und dass sie daran auch nichts ändern wird. Sie sagt: „Wenn aufgrund meiner jüdischen Bekanntschaften unterstellt wird, dass ich den Nationalsozialismus ablehne, so antworte ich, dass ich mich nicht um Politik kümmere. Das Vorgehen gegen die Juden halte ich nicht für Recht. Ich kann diesen Maßnahmen nicht zustimmen. Dabei möchte ich betonen, dass ich keine Kommunistin bin. Jeder anständige Mensch ist mir recht, ganz gleich, welcher Nationalität er angehört.” Ohne Verwarnung wird Ilse wieder nach Hause geschickt.
Am 28. Oktober 1941 wird Ilse erneut zur Gestapo einbestellt. Im Mittelpunkt der Vernehmung steht der Vorwurf, dass sie eine Beziehung zu Else Schwabacher eingegangen ist. Für die Gestapo steht hierbei aber nicht ein mögliches lesbisches Verhältnis im Vordergrund, sondern viel schwerwiegender ist ihr Verdacht, dass Else Schwabacher Jüdin sein könnte. Selbst eine nicht-sexuelle Freundschaft zwischen Ilse und Else wäre für die sofortige Verhaftung beider Frauen zu diesem Zeitpunkt ein ausreichender Grund gewesen, sofern Else tatsächlich als Jüdin identifiziert worden wäre. (Nur vier Tage zuvor hatte das Reichssicherheitshauptamt eine entsprechende Anordnung an die Gestapoleitstellen herausgegeben.) Ilse schwört, dass Else keine Jüdin ist, und das entspricht der Wahrheit. Und sie wiederholt und bestätigt ihre Aussagen über Jüdinnen und Juden, die sie schon im vorherigen Monat gegenüber der Gestapo getätigt hat. Ist das Mut? Oder Naivität? Ilse hat jedenfalls Glück, dass sie nicht sofort verhaftet wird. Sie muss unterschreiben, dass sie eindringlich davor gewarnt wurde, dass ein weiterer Verstoß ihre sofortige Verhaftung und die Haft in einem Konzentrationslager nach sich ziehen wird.
November 1942. Um sich vor der Überwachung von der Würzburger Gestapo zu schützen, verbringt Ilse Totzke mehr Zeit in Berlin. Dort lernt sie die drei Jahre jüngere Ruth Basinski kennen. Ruth ist Jüdin und stammt aus Posen. Sie arbeitet in Berlin als Kindergärtnerin und ist außerdem Musikerin. Sie spielt Flöte. Die beiden freunden sich an. Mindestens einmal übernachtet Ilse bei Ruth.
Am 23. November 1942 hilft Ilse Totzke zwei jüdischen Freundinnen bei der Flucht bei Moulin-Neuf über die Schweizer Grenze. Eine der Flüchtlinge ist Gertrud Tichauer. Sie ist Röntgenassistentin in einem jüdischen Krankenhaus in Frankfurt und steht schon auf einer Deportationsliste, als sie die Flucht wagt.
Die Gestapo Würzburg lädt Ilse im Dezember 1942 erneut vor. Ilse beschließt daraufhin, fortan in der Illegalität zu leben. Ihr ist zu diesem Zeitpunkt sicher bewusst, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit verhaftet werden würde, wenn sie bei der Gestapo erscheint. Ilse fährt nach Berlin und plant, bei ihrer Freundin Ruth unterzutauchen. Als sie in Berlin ankommt, ändern sich ihre Pläne, denn sie erfährt, dass Ruth in der Auguststraße 17 in Berlin ist. An dieser Adresse ist ein sogenanntes „Sammellager”, in dem nur Jüdinnen und Juden leben, die bald in Konzentrationslager deportiert werden sollen. Ilse gelingt es, Ruth dort zu treffen. Es dauert ein paar Tage, aber dann stimmt Ruth Ilses Plan zu, gemeinsam über die schweizerische Grenze zu fliehen.
26. Februar 1943. In der Nacht steigen Ilse und Ruth über einen Drahtzaun. Auf der anderen Seite des Zaunes ist die Schweiz. Doch sie haben Pech. Schweizer Grenzposten greifen sie auf. Nach einer Befragung werden sie zurück nach Deutschland geschickt. In der folgenden Nacht versuchen sie es erneut und werden wieder gefasst. Diesmal werden die beiden voneinander getrennt. Sie werden sich nicht wiedersehen. Ilse wird zur Gestapo nach Würzburg gebracht. Ruth wird in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Weil sie eine gute Musikerin ist, wird sie dort Teil des „Mädchenorchesters”. Sie überlebt Auschwitz und emigriert später in die USA, wo sie 1989 als Ruth Bassin stirbt.
Die Gestapo Würzburg kann Ilse nun, nach Jahren der Überwachung, das erste Mal einer Straftat überführen. Ilse gibt zu Protokoll: „Der Fluchtplan war mein eigener Entschluss, ich wurde von keiner Seite unterstützt (…). Ich möchte nochmals erwähnen, dass ich aus Deutschland flüchten wollte, weil ich den Nationalsozialismus ablehne. Vor allem kann ich die Nürnberger Gesetze nicht gutheißen. Ich hatte die Absicht, mich in der Schweiz internieren zu lassen. In Deutschland wollte ich unter keinen Umständen weiterleben.“ Ilse wird in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Dort muss sie schwere Zwangsarbeit in der Forstwirtschaft leisten. Ende Februar 1943 wird Ilse von Ravensbrück nach Auschwitz deportiert. Nach rund zehn Wochen kommt sie wieder zurück nach Ravensbrück.
Am 26. April 1945 wird Ilse Totzke durch eine humanitäre Rettungsaktion, die auch als Rettungsaktion der „Weißen Busse” bekannt ist, aus der KZ-Haft befreit. Sie kann sich eine Zeit in Schweden erholen, und zieht dann für einige Jahre nach Paris, wo sie Gelegenheitsarbeiten nachgeht.
1954 kehrt Ilse Totzke unter dem Namen Sonia Totzke, den sie im KZ angenommen hatte, nach Würzburg zurück und strengt dort ein Entschädigungsverfahren an. Obwohl sie in der privilegierten Lage ist, viele Dokumente beschaffen zu können, die ihre Verfolgungsgeschichte belegen, werden ihr im Entschädigungsverfahren viele Steine in den Weg gelegt. Am Ende erhält sie für den Schaden an Freiheit 3.750 DM, sowie für den Schaden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen, dadurch bedingt, dass sie ihre Ausbildung abbrechen musste, weitere 5.000 DM. Sie lebt bis zu ihrem Lebensende zurückgezogen im Elsass.
1995 wird Ilse posthum von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern” geehrt.
Anlässlich ihres 100. Geburtstags am 4. August 2013 wird in Würzburg eine Straße nach Ilse Totzke benannt.

Quelle: Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V. Projekt #ZumFeindGemacht

Erläuterung:

Lesbische Frauen wurden in der Zeit des Nationalsozialismus selten ausschließlich wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt. Meistens wurden gegen sie unterschiedliche andere Gründe vorgebracht, wie z. B. Kontakt zu Juden und Jüdinnen, Sex mit Minderjährigen oder Abhängigen (wobei nicht vermerkt wurde, ob es sich um lesbische sexuelle Handlungen handelte), Mitgliedschaft in politischen Parteien (KPD, SPD) oder sie wurden als asozial im weitläufigen Sinne bezeichnet, worunter auch der häufige Wechsel von Partnerinnen zählte. Anders als bei homosexuellen Männern, die nach § 175 verfolgt wurden, nahmen die Nazis lesbische Frauen aus fadenscheinigen Gründen in „Schutzhaft“, entweder in Gefängnissen oder Konzentrationslagern. Dort gab es für lesbische Frauen keine gesonderte Kennzeichnung an der Häftlingskleidung. Sie trugen entweder den schwarzen Winkel zur Kennzeichnung „Asoziale“ oder den roten Winkel zur Kennzeichnung „politische Gefangene“ und wurden auch so in den Unterkünften sortiert. Dies ist auch der Grund, aus dem es kaum Dokumente über lesbische Frauen in den Konzentrationslagern gibt. Selten wurde hinter dem Namen einer Inhaftierten der Vermerk „lesbisch“ gemacht.
Da Homosexualität auch nach dem 2. Weltkrieg in der Gesellschaft tabuisiert wurde, gibt es heute so gut wie keine Aussagen von Lesben über ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Nur wenige lesbische Frauen hinterließen einen Nachlass mit Dokumenten. Dies waren meistens Frauen aus der gehobenen Schicht, sodass aus anderen Bevölkerungsschichten keine Dokumente oder Zeugenaussagen vorliegen. Dies gilt auch für transsexuelle und non-binäre Menschen.

Fotos: Projekt #ZumFeindGemacht

Text: Xenia Marita Riebe

Lies auch: Lesbische Frauen im Nationalsozialismus Teil II

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Kommentare werden durch den WP-SpamShield Spam Blocker geschützt