Viktor Klemperer – „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“

Wer vorhat, die AfD oder eine andere rechte Partei zu wählen, der sei gewarnt. Unser demokratischer Rechtsstaat ist gefährdet.
Viktor Klemperer beschreibt in seinem Tagebuch sehr eindrücklich, wie die Nationalsozialisten bereits kurz nach ihrem Wahlsieg im März 1933 begannen, eine Diktatur zu installieren.

Auszug aus Viktor Klemperers Tagebücher 1933 – 1941

10. März 1933, freitags abends

Hitler seit dem 30. Januar Kanzler.
Was ich bis zum Wahlsonntag – 5. März – Terror nannte, war mildes Prélude. Jetzt wiederholt sich haargenau, nur mit anderen Vorzeichen, mit Hakenkreuz, die Sache von 1918. Wieder ist es erstaunlich, wie wehrlos alles zusammenbricht. Wo ist Bayern, wo ist das Reichsbanner usw. usw.? Acht Tage vor der Wahl die plumpe Sache des Reichstagsbrandes – ich kann mir nicht denken, dass irgendjemand wirklich an kommunistische Täter glaubt statt an bezahlte Hakenkreuz-Arbeit. Dann die wilden Verbote und Gewaltsamkeiten. Und dazu durch Straße, Radio ect. die grenzenlose Propaganda. Am Sonnabend – 4. März – hörte ich ein Stück der Hitlerrede aus Königsberg. Eine Hotelfront am Bahnhof, erleuchtet, Fackelzug davor, Fackelträger und Hakenkreuz-Fahnenträger auf den Balkons und Lautsprecher. Ich verstand nur einzelne Worte. Aber der Ton! Das salbungsvolle Gebrüll, wirklich Gebrüll, eines Geistlichen. (Hitler benutzte religiöse Termini, um sich selbst als Heilsbringer darzustellen)
Am Sonntag wählte ich den Demokraten, Eva (Klemperer) Zentrum. Abends gegen neun mit Blumenfels bei Dembers. Ich hatte zum Scherz, weil ich auf Bayern hoffte, mein bayrisches Verdienstkreuz angesteckt. Dann der ungeheure Wahlsieg der Nationalsozialisten. Die Verdoppelung in Bayern. Dazwischen das Horst-Wessel-Lied. – Eine entrüstete Zurückweisung, loyalen Juden werde nichts Übles geschehen. Gleich darauf Verbot des Zentralvereins jüdischer Bürger in Thüringen, weil er die Regierung „talmudistisch“ kritisiert und herabgesetzt habe. Seitdem Tag um Tag Kommissare, zertretene Regierungen, gehisste Hakenkreuzfahnen, besetzte Häuser, erschossene Leute, Verbote (heute zum ersten Mal auch das ganz zahme „Berliner Tageblatt“) ect. ect.. Gestern „im Auftrag der NS-Partei“ – nicht einmal mehr dem Namen nach im Regierungsauftrag – der Dramaturg Karl Wollf entlassen, heute das ganze sächsische Ministerium usw. usw.. Vollkommene Revolution und Parteidiktatur. Und alle Gegenkräfte wie vom Erdboden verschwunden. Dieser völlige Zusammenbruch einer eben noch vorhandenen Macht, nein, ihr gänzliches Fortsein ist mir so erschütternd. Que sais – je?
Am Montagabend bei Frau Schaps zusammen mit Gerstles. Niemand wagt mehr, etwas zu sagen, alles ist in Angst. Nur ganz unter uns sagt Gerstle: „Der Brandstifter im Reichstag war nur mit Hose und kommunistischem Parteibuch bekleidet und hat nachweislich bei einem NS-Mann gewohnt.“
Wie lange werde ich noch im Amt sein?

Viktor Klemperer war ein deutscher Romanist, Literaturwissenschaftler und Politiker. Er wurde im Oktober 1881 in Landsberg an der Warthe geboren und starb 1960 in Dresden. Durch seine ab 1995 herausgegebenen Tagebücher mit dem Titel „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ wurde er weit über die Fachgrenzen hinaus bekannt. In diesen Tagebüchern aus den Jahren 1933 bis 1941 dokumentierte er akribisch seine Alltagserfahrungen. Er beschreibt, wie er aus der deutschen Gesellschaft der Zeit des Nationalsozialismus ausgegrenzt wurde. Viktor Klemperer – ein intellektueller protestantischer Konvertit jüdischer Herkunft – kann als einer der wichtigsten Chronisten des Lebens eines Holocaust-Überlebenden gelten. Seit 1920 war er Professor für Romanistik an der Technischen Hochschule in Dresden. Am 30. April 1935 wurde er nach Inkrafttreten des Reichsbürgergesetzes unter Federführung des Gauleiters Martin Mutschmann aus seiner Professur in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.

Textteile und Foto: Xenia Marita Riebe

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