Hass kennt sie, solange sie lebt.

Queere Menschen verdienen unsere Achtung und unseren Schutz. Denke daran, wenn du die AfD, das Bündnis Sahra Wagenknecht oder die Werte Union wählen willst, weil rechtes Gedankengut schon einmal in Hass gegen Minderheiten geführt hat.

Auszug aus dem Roman „Libellen im Winter“ von Gudrun Seidenauer

Zweimal, dreimal, viermal: Den Reflex, die Schläge mitzuzählen, hat sie noch aus der Schule. Sie treffen immer woandershin. Das Knacken der Rippen zuckt bis unter die Schädeldecke, ein Blitz aus Schmerz schießt in den Bauch, kippt in ein hartes Pochen, das der nächste Blitz verdoppelt. Hände schubsen, quetschen, boxen. Fäuste hämmern auf Schultern und Kreuz. Der Schmerz löscht Grete aus.
In diesen Schuhen kann man nicht rennen. Riemchenpumps von einer Einkaufstour an die italienische Grenze. Aber sie wollte heute Abend unbedingt gut aussehen. Als ihr die Männer entgegentreten, hilft auch ihr reflexartiges Lächeln nicht.
„Was grinst du so blöd, du perverses Luder?“
Sie ohrfeigen ihr das verzagte Lächeln aus dem Gesicht, bevor sie zurückweichen kann. Ein paar Schritte abseits, schattenhaft und schweigsam, ein Dritter, sie dreht den Kopf in seine Richtung, der Hilferuf kommt als Gurgeln mit einem Schwall Blut aus der Nase. Er steht da und schaut, nicht wütend wie die anderen: interessiert. Ein Tritt in den Bauch lässt sie einknicken. Sie sieht, dass er seine Hände in die Hüften gestemmt hat, die Daumen in die Gürtelschlaufen eingehängt. Dann fährt ihr brennende Schwärze ins Gesicht. Die Männer rütteln sie wach. Blut füllt ihren Mund, tropft in den Ausschnitt. Das Kleid mit dem bunten Kleeblattmuster, auf das sie so stolz war, ist vom Saum bis zur Taille zerrissen, die Knöpfe am Oberteil abgesprengt. Ihre linke Brust hängt halb aus dem BH, als sie sich aufrappelt, nach ihrem Schuh tastet.
Sie lachen. Was sie sagen, versteht sie nicht, das Dröhnen in ihrem Kopf ist zu laut. Der Interessierte holt aus und schüttet ihr den Inhalt seiner Flasche ins Gesicht. Mit einem Schlag ist es still, nur ihr Keuchen ist zu hören.
„Solche wie dich hat der Hitler vergessen“, stößt der eine hervor.
Der andere: „Da haben wir noch was zu erledigen.“
Der Arm des Mannes saust durch die Luft, schlägt der leeren Flasche an einem Hydranten den Hals ab. Er macht einen Schritt auf Grete zu. Sein Blick ist anders: fokussiert, als gelte es, eine Aufgabe zu erfüllen, für die es Konzentration braucht.
„Du Sau. Du perverse Sau. Solche wie dich sollte man -“
Eine aufjaulende Sirene schneidet ihm das Wort ab, die drei wechseln Blicke, und sie verschwinden, werden so jä eins mit dem Dunkel der Gasse, dass Grete ist, als wäre sie in einem einzigen bösen Traum einem einzigen Ungeheuer mit vielen Fäusten begegnet. Hass ist nichts Besonderes für sie, Hass kennt sie, solange sie lebt. Sie selbst ist ihm bis jetzt halbwegs ausgewichen, zumeist waren andere im Fadenkreuz. Aber Hass kann jederzeit jeden treffen, so kennt sie es. Man kann wachsam sein, man kann sich wegducken, durchtauchen, so sehr eins werden mit dem Hintergrund, dass man im rechten Moment unsichtbar ist. Man kann darauf achten, was sie wollen, die das Sagen haben. Man kann so tun, als gäbe man es ihnen.

Der Henkel ihre Handtasche ist gerissen, aber Schlüssel, Portemonnaie und Ausweis sind noch da. Der Polizist lässt den Arm aus dem Fenster hängen und winkt sie zu sich her. Grete hinkt zwei Schritte auf ihn zu. Sie ist überwach, sodass die Dinge gleißende Konturen bekommen.

Bei der Beschreibung der Täter bemerkt Grete, dass sie Allerweltstypen benennt: junge Männer zwischen zwanzig und dreißig, schlank, einer breiter, einer mit Oberlippenbärtchen, der andere ohne. Über Haarfarbe und Augenfarbe kann sie nichts sagen, Narben oder andere Besonderheiten hat sie nicht wahrgenommen, wie auch.
„Möchten Sie Anzeige erstatten? Viel bringen wird es nicht, das kann ich Ihnen gleich sagen, aber natürlich -“
Der Polizist nimmt sie in den Blick und Grete spürt, dass das eine Falle ist. Sollte sie keine Anzeige wollen, sieht es so aus, als hätte sie etwas zu verbergen.
Ja, eine Anzeige wolle sie auf jeden Fall. Und nein, einen Arzt brauche sie nicht. Sie bemüht sich um ein ausdrucksloses Gesicht.

Auf dem Revier stellt ihr der freundlichere Beamte eine Tasse Tee hin. Sie lächelt, fährt sich durchs Haar und hofft, für die Umstände wieder einigermaßen auszusehen. Das Kleid ist hin, aber was für ein Glück, dass sie es anhat: Es wirkt modisch, doch mit dem bunten Kleeblattdruck und dem Tellerrock zum engen Oberteil auch mädchenhaft. Sie schlägt die Beine übereinander, zieht den zerrissenen Stoff über den Oberschenkel.
Woher, wohin, aha, warum dieser Weg? Der Name der Freundin, Adresse, Beruf? Ob sie sich schon lange kennen würden. Zweck des Besuchs, die Dauer. Und warum genau diese Gasse? Bücher, aha, die Auslage. Kann sie sich denn an eines erinnern? Zufällig?
Die verhören sie, als wäre sie es, die etwas angestellt hat. Die führen eine Kartei, hat ihr Erich erzählt.

Grete ignoriert ihr Schmerzen, richtet sich auf und legt alle Kraft in ihre Stimme: Nein, sie sei noch nie in der Weinbar Luise gewesen, nein, davon wisse sie nichts, sie sei mehr der Typ fürs Kaffeehaus. Nein, sicher nicht.
„Nein, noch nie. Warum sollte ich?“
Das war riskant, aber es funktioniert. Ob sie denn nicht wisse, dass -. Ein stadtbekannter Treffpunkt-.
Davon gehört? Das wisse sie nicht mit Bestimmtheit. Mit so etwas befasse sie sich nicht. Mit solchen Leuten.
Den Paragrafen 129 kenne sie aber?
Nein, warum sollte sie? Worum geht es da? Sie tue nichts Verbotenes.

Im Roman „Libellen im Winter“ von Gudrun Seidenauer hat die junge Grete eine Weinbar besucht, in deren Hinterzimmer an verschiedenen Tagen ein Treffpunkt für Homosexuelle und Lesben stattfindet. Grete ist sich noch nicht ganz im Klaren, was ihre eigene Homosexualität betrifft. Sie geht in das Lokal, um zu beobachten. Und die Blicke, die ihr folgen, versetzen sie in eine wunderbar erwartungsvolle Unruhe.
Der Überfall auf sie geschieht für sie völlig unerwartet, als sie die Weinbar nach einer Stunde verlässt.
Die Szene spielt in Wien, einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Zu dieser Zeit steht in Österreich Homosexualität von Frauen nach Paragraf 129Ib immer noch unter Strafe.

§129Ib – Erst 1971 fiel in Österreich das totale Verbot der Homosexualität.

„Die Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft auf das Leben von Lesben und Schwulen waren weitreichend“, schreibt die Autorin Ulrike Repnik in ihrem Buch „Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Österreich“. Homosexuelles Leben sei „buchstäblich ausgelöscht worden“. Da Schwule und Lesben sich nicht fortpflanzten und damit nicht zur Reproduktion der „arischen Rasse“ beitrugen, wurden sie von den Nationalsozialisten als „Volksfeinde“ denunziert. Schwule Männer wurden in sogenannten „Rosa Listen“ polizeilich erfasst, in psychiatrische Anstalten überwiesen, kastriert oder in Konzentrationslager eingeliefert, wo sie den „Rosa Winkel“ tragen mussten.
Im Gegensatz zu Deutschland, wo der §175 nur männliche Homosexualität unter Strafe stellte, konnten in Österreich während des Nationalsozialismus auch Lesben verhaftet werden. Das Zentrum QWIEN hat Strafakten aus der Nazi-Zeit archiviert. Darin finden sich Fälle von Frauen, die nicht nur wegen sexuellen Handlungen verurteilt wurden, sondern auch, weil sie sich Liebesbriefe geschrieben hatten. Männer wurden häufig an öffentlichen Orten wie Bädern oder Parks in flagranti erwischt. Einmal in der Woche ging die Kripo in das Esterhàzybad, wo es zu sexuellen Handlungen zwischen Männern in der Dampfkammer kam, erzählt Hannes Sulzenbacher von QWIEN. Die Polizeibeamten gingen undercover und trugen nur einen Lendenschurz. Eine ähnliche Szene für Frauen dürfte es nicht gegeben haben. Sexuelle Kontakte fanden meist im Privaten statt.
Das Zentrum QWIEN geht von ungefähr 1.400 Wienerinnen und Wienern aus, die während der NS-Zeit angeklagt wurden. Nur etwa fünf Prozent der Strafakten betreffen Frauen. Aber warum ist der Anteil so gering? Ulrike Repnik erklärt, dass Frauen nach nationalsozialistischer Ideologie keine eigene Sexualität zugestanden wurde. Zudem wurde argumentiert, dass Frauen dadurch, dass sie nicht in Spitzenpositionen tätig seien, den Staat nicht gefährden würden, so Repnik.
Die deutsche Historikerin Claudia Schoppmann argumentiert, dass der Nationalsozialismus von Anfang an als Männerbund konzipiert war. Außerdem, so der nationalsozialistische Gedankengang, könnten „verführte“ Lesben ja trotzdem noch als Gebärende zur Verfügung stehen. Bis 2005 wurden homosexuelle KZ-Überlebende nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der §129Ib. Wer während des Nationalsozialismus wegen gleichgeschlechtlicher „Unzucht“ verurteilt worden war, musste seine Haft nach 1945 fortsetzen. Doch wurden in den Sechzigerjahren Stimmen laut, die eine Reform des Strafrechts zugunsten von Schwulen und Lesben forderten. So etwa der SPÖ-Justizminister Christian Broda. Ähnlich wie heute die Ehe für alle, entbrannte damals der §129Ib zum innenpolitischen Streitpunkt zwischen ÖVP und SPÖ. Die Volkspartei widersetzte sich der Reform Brodas und wurde dabei von der katholischen Kirche unterstützt. Als die SPÖ im Jahr 1971 die absolute Mehrheit erreichte, fiel im Rahmen der kleinen Strafrechtsreform das Totalverbot auf Homosexualität. Österreich war zu diesem Zeitpunkt eines der letzten Länder in Europa, das an einem Verbot von weiblicher und männlicher Homosexualität festgehalten hatte, schreibt Repnik. Im Zeitraum von 1950 bis 1971 waren ungefähr 13.000 Homosexuelle in Österreich verurteilt wurden, davon 95 Prozent Männer.

Quelle: QWIEN – Zentrum für queere Geschichte

Foto: © Xenia Marita Riebe
Romanauszug. © Gudrun Seidenauer
Textteile. © Xenia Marita Riebe

Lies auch: Der Wiener Nationalsozialist hat nicht nur Humor, er hat auch Fantasie.

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