Der Wiener Nationalsozialist hat nicht nur Humor, er hat auch Fantasie.

Wenn du daran denkst, die AfD oder eine andere rechte Partei zu wählen, dann versuche dir vorzustellen, dass das, was den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten angetan wurde, jeden treffen kann, der nur ein wenig anders ist als der „normale Bürger“.

Shanghai am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Für Tausende von Juden ist es das letzte Schlupfloch, und sie kommen, ohne Visum, aber voller Hoffnung, in die Millionenstadt in China.

Auszug aus dem Roman „Shanghai fern von wo“ von Ursula Krechel

Was ihrem Mann in der Nacht geschehen war, das hatte sie bis jetzt niemandem gesagt. Jetzt sehnte sie sich nach einem Menschen, der diese Verborgenheit in sich aufnahm und darüber schwieg, wie sie geschwiegen hatte. Sie konnte sich einen solchen Menschen nicht vorstellen, das war traurig, aber es war auch eine Beschränktheit, die sie deutlich spürte.
Ihre Wohnung in Wien, das hätte sie diesem imaginären Menschen gesagt, war mit einer großen Eisentür verschlossen. Hätte es geläutet, niemand hätte aufgemacht. Sie und ihr Mann wussten, es könnte in der Nacht oder am frühen Morgen nur die SA sein, die gekommen war, um ihn zu verhaften. Aber er war ja schwerhörig. Als er sich ein Glas Wasser im Korridor holte, öffnete Herr Tausig die Wohnungstür, ehe die SA-Männer nur auf den Schellenknopf drücken konnten. Er lief denWiener Nationalsozialist direkt in die Arme und wurde weggeschleppt. Sie brachten ihn in ein Kellerlokal. Sie ließen ihn „turnen“, das war ein beliebter Sport für die SA-Männer, ein Sport, den sie selbst nicht ausübten. Den nicht mehr jungen Juden zwangen sie, gymnastische Übungen zu machen, ein Auf und Nieder bis zur vollkommenen Erschöpfung. Danach stellten sie ihn an die Wand, aber nicht wirklich an die Wand, vor ihm war noch Platz für eine weitere Person. Dort, genau vor ihm, positionierte sich ein Fotograf, nahm ihn ins Visier, und hinter ihm entsicherten sie einen Revolver. Obwohl Herr Tausig schwerhörig war: das hörte er, das spürte er, das Geräusch ging durch ihn hindurch. So wurde er fotografiert als „feiger Jude, der sich fürchtet“, angstverzerrt. Das waren ihre Späße, denn der Wiener Nationalsozialist hat nicht nur Humor, er hat auch Fantasie. Als ihr Mann wiederkam, war Frau Tausig auf das Schlimmste gefasst, doch als ich ihn sah, befiel mich eine Schrecklähmung. Er bewegte sich mühsam hinkend die Treppe hinauf, sein Gesicht war leichenhaft wächsern. Das ständige Gebrüll hatte ihn betäubt, wie ein Schlafwandler kam er zurück. Als wäre er in einem Sack gefangengehalten worden, und seine Frau musste ihn vorsichtig, mühsam, Glied für Glied, daraus hervorziehen.

Fotocollage und Textteile: Xenia Marita Riebe

Auszug aus Romantext: Ursula Krechel

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