Eure Kürbissuppen sind bereits bestellt

 

Neulich war ich mit meinem Schwiegersohn, dem jungen kubanischen Maler Enrique Guisado Triay, in der Alten Spinnerei in Leipzig. Wir waren mit der Straßenbahn dorthin gefahren, weil wir bei Boesner, dem Großhandel für Künstlerbedarf, Keilrahmen uns Ähnliches erstehen wollten. Enrique, der erst seit Kurzem in Deutschland ist, hat aus Kuba viele fertige Gemälde mitgebracht, die aufgezogen werden mussten. Als wir das Gelände der historischen Baumwollspinnerei betraten, war Enrique fasziniert von der Schönheit der alten Industriebauten. Zwar ist er aus seiner Heimat an alte Gebäude gewöhnt, aber diese sind allesamt in einem schlechten Zustand, sodass es für ihn etwas Besonderes war, alte Gebäude in so gutem Zustand vorzufinden.

Noch bevor wir in den Kunsthandel gingen, wollten wir eine Galerie besuchen, die sich in Halle 20 befinden sollte, dem ältesten Teil der Spinnerei. Wir fanden eine offene Tür und betraten das Gebäude. Im Erdgeschoss war keine Galerie zu sehen und so gingen wir die Treppe hinauf bis auf die letzte Etage, ohne Erfolg. Es war schon etwas unheimlich, durch dieses alte Gebäude zu gehen, in dem niemand zu sein schien und dem unsere Schritte in der absoluten Stille widerhallten. Später stellten wir fest, dass wir uns in der Tür geirrt hatten. Aber die Kunstgalerie, die wir schließlich fanden, hatte sowieso geschlossen. Also gingen wir nun doch zu Boesner. Weil Enrique noch nicht so gut Deutsch spricht, meldete ich ihn an der Rezeption an und er wurde als Künstler registriert und bekam eine Kundenkarte. Nun konnten wir einkaufen. Wir arbeiteten uns mühsam durch die Regale mit den unterschiedlichen Keilrahmen und stellten zusammen, was wir brauchten. Dann sahen wir uns noch ein bisschen um. Enrique betrachtete die große Auswahl an Künstlermaterialien, immer wieder erwähnend, dass es dies alles auf Kuba nicht gibt. Dort hatte er z.B. über ein Jahr lang keine weiße Acrylfarbe bekommen.

Nachdem wir alles eingekauft hatten, einschließlich eines Buches über Rembrandt, Enriques Lieblingsmaler, gingen wir hinüber zu einem Restaurant mit Biergarten, das auf dem Gelände der Baumwollspinnerei liegt. Wir waren so früh am Tag die ersten Gäste und setzten uns im Garten in den Halbschatten unter einen der ausladenden alten Bäume und bestellten einen Kaffee. Der freundliche junge Mann, der dort bediente, brachte uns diesen recht schnell. Ich hatte inzwischen in die Speisekarte geschaut und erklärte ihm, dass wir gegen Mittag zurückkommen wollten, um eine Kürbissuppe zu essen. Meine Frage, ob wir einen Tisch reservieren müssten, verneinte er.

Nach dem Kaffee durchstreiften Enrique und ich das Gelände der Spinnerei und trafen auf eine weitere Galerie. Laut Plakat an der Eingangstür sollte hier eine Kunstausstellung zu besichtigen sein. Wir traten ein und fanden den großen Ausstellungsraum leer vor. Eine freundliche junge Frau bot uns an, anstelle der Ausstellung, die wohl schon beendet war, die beachtliche Bibliothek mit Kunstbüchern zu besichtigen. Wir nahmen das Angebot gerne an und beschäftigten uns mehr als eine Stunde mit den Büchern, wobei Enrique besonders erfreut war, Bildbände über das Werk von Gottfried Helnwein und Franz Gertsch vorzufinden. Beide Künstler sind Hyperrealisten und Enriques Vorbilder. Wieder im Freien, bewunderten wir noch ein wenig die Architektur, wobei unser Blick auf ein Schild hoch oben am guterhaltenen Schornstein der Spinnerei fiel, das das Datum 1885 zeigte. Der Kamin ist somit genau 100 Jahre älter als Enrique.

Zurück im Biergarten mussten wir feststellen, dass es dort inzwischen sehr voll geworden war. Beinahe jeder Platz an den einfachen großen Holztischen war besetzt. Mehrfach fragten wir die dort sitzenden Gäste, ob wir uns zu ihnen setzen dürften, aber immer waren die Plätze schon reserviert. Schließlich fanden wir noch zwei Plätze in der prallen Sonne in der äußersten Ecke des Gartens. Wir waren inzwischen hungrig geworden und ich schaute noch einmal in die Speisekarte. Die Kürbissuppe erschien uns jetzt zu wenig zu sein und wir einigten uns darauf, Pasta mit buntem Gemüse zu essen und dazu ein Bier zu trinken. Ich versuchte ständig, den jungen Mann, der uns am Morgen bedient hatte auf mich aufmerksam zu machen, aber er schien mich immer zu übersehen. Schließlich wurde ich ein wenig ungeduldig, stand auf und winkte mit beiden Armen nach ihm. Das reichte, um ihn dazu zu bewegen, an unseren Tisch zu kommen. Ohne mir eine Gelegenheit zu geben, etwas zu bestellen, sagte er triumphierend: „Ich habe eure Kürbissuppen bereits bestellt. Sie kommen gleich. Ich war zu perplex, um ihm zu sagen, dass wir uns umentschieden hatten und beließ es bei den Suppen. Gerade noch konnte ich das Bier bestellen, ehe er sich, stolz über sein voraussichtliches Handeln, anderen Gästen zuwandte. Na ja, wir warteten also auf die Suppe, die wir nicht mehr wollten, vor allem jetzt, in der heißen Augustsonne. Als sie aber kam, schmeckte sie so gut und es gab auch reichlich Brot dazu, dass wir schließlich doch satt und zufrieden waren. Freilich schwitzten wir nicht wenig, aber das kühle Bier half uns darüber hinweg.

Nachdem wir ein zweites Mal bei Boesner waren – Enrique war noch etwas eingefallen, was er benötigte – fuhren wir schwer bepackt mit der Straßenbahn zurück in die Südvorstadt, wo Enrique und meine Tochter Linda wohnen. Es war doch ein recht netter Vormittag gewesen.

Hier noch ein Text zur Geschichte der alten Baumwollspinnerei von Karoline Mueller-Stahl.

Am Beginn stand die Vision einiger mutiger Industrieller. Der Bedarf an Baumwolle war im 19. Jahrhundert weltweit rasant angestiegen. In Deutschland waren Baumwollgarne zuvor traditionell vor allem aus England und der Schweiz importiert worden, Rohware wurde seinerzeit zumeist aus den Vereinigten Staaten aber auch aus Ägypten bezogen. Ein Abflauen des Bedarfs war nicht in Sicht, eher im Gegenteil. Die Löhne in Deutschland waren niedrig, die Arbeitszeiten länger als in Großbritannien, Einfuhrzölle für gröbere Garne waren hoch. Es war ein günstiger Zeitpunkt für die Vision, eine der größten Spinnereien Europas zu bauen.

Am 21. Juni 1884 erfolgte der Eintrag der Leipziger Baumwollspinnerei als Aktiengesellschaft in das Handelsregister. Von Dr. Karl Heine, der das Sumpfland im Leipziger Westen urbar gemacht hatte, erwarb man ein Grundstück inmitten der noch jungen Arbeiterquartiere, zum günstigen Preis von 2,10 Mark für den Quadratmeter mit direktem Anschlussgleis, Telefonverbindung und gesichertem Zu- und Abwasser. Für die Leitung des Vorhabens wurde der aus Zürich stammende Johann Morf engagiert. Noch im selben Jahr wurde die 1. Spinnerei errichtet (die heutige Halle 20) und die Arbeit mit fünf Spinnstühlen aufgenommen. Im März des nächsten Jahres lief die Produktion mit 30.000 Selfaktorspindeln und dazugehörigem Vorwerk bereits auf vollen Touren.

Und es wurde weitergebaut. Das erste Wohnhaus für Arbeiter in der Thüringer Straße entstand, das Verwaltungsgebäude in der Alten Salzstraße folgte, 1888 die 2. Spinnerei (heute Halle 18) mit 50.000 Spindeln, im Jahr darauf die 3. Spinnerei (heute Halle 14) mit 76.000 Spindeln und Kämmmaschinen nun auch für hochwertige gekämmte und feine Garne. Mitte der 1890er Jahre wurde ein viertes Produktionsgebäude (heute Halle 6) mit zwei Produktionssälen und einer weiteren Kämmerei gebaut, 1907 folgte ein fünftes (die heutige Halle 7) mit 26.000 Spindeln vor allem für Nähfadengarne. Außerdem wuchs die Anzahl der Arbeiterwohnhäuser.

Die Entwicklungen waren aber nicht nur auf Wachstum, sondern auch auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. Die Spinnerei war in jeder Hinsicht ein Ort der Moderne. 1894 etwa wurde eine Spinnereischule eingerichtet, im Jahr darauf die Betriebsfeuerwehr gegründet mit drei Löschzügen zu je 100 Mann, eine Werkskantine bot Waren zum Selbstkostenpreis an. Seit dieser Zeit wurde auch in der elektrischen Zentrale Strom erzeugt, dadurch konnten beispielsweise die bisher verwendeten offenen Gaslampen gegen elektrische Bogenlampen ausgetauscht werden. Kurz vor der Jahrhundertwende wurde eine Badeanstalt gebaut, neue Arbeiterhäuser entstanden, ein Kindergarten wurde ebenso eingerichtet wie ein Park mit Turnhalle für Eltern und Kinder. Musikkapellen, Tanzgruppen, Männerchöre waren Teil des betrieblichen Lebens. Das Areal war eine Stadt in der Stadt geworden mit Wohnungen, Schrebergartensiedlung, Kindergarten, Ärzten. Außerhalb des Geländes, aber in seiner unmittelbaren Nähe, waren Geschäfte und Lokale entstanden.

Bei solch einem Wachstum war der Bedarf an Facharbeitern hoch. Von Anfang an gehörte die Frage nach geeigneten Arbeitskräften zu den größten Problemen. Für die harte Fabrikarbeit mussten nicht nur viele, sondern noch dazu besonders kompetente Leute gefunden werden. Man holte sie aus den klassischen europäischen Textilorten in Sachsen, Bayern, dem Erzgebirge, Württemberg, aus Polen und Tschechien, aus Österreich und der Schweiz. Ein vielsprachiges Völkergemisch mit all seiner Energie, die Chronik der Spinnerei berichtet aber auch von den Konflikten und Raufereien.

Im Jahr 1902 überstieg der Jahresumsatz bereits die 10-Millionen-Schwelle, die Aktionäre erhielten eine Dividende von 14 Prozent. Die Verdienste der Arbeiter aber standen in keinem Verhältnis zur damaligen Prosperität des Unternehmens und zu den harten Arbeitsbedingungen. Der Kampf um die Herabsetzung der täglichen Arbeitszeit auf zehn Stunden begann und mit ihm hielten die Ideen des Sozialismus Einzug. So sprach etwa Karl Liebknecht am 12. Februar 1905 im Felsenkeller im benachbarten Plagwitz vor über 2.500 Arbeitern.

Doch waren die sozialen Kämpfe nicht das Ende des Booms. Die Produktivitätssteigerung blieb beachtlich. 1887 verarbeiteten 318 Arbeiter und Arbeiterinnen in einer wöchentlichen Arbeitszeit von bis zu 77 Stunden insgesamt 6.200 Ballen Baumwolle zu mehr als 1 Mio. Kilogramm Garn. Nur zwanzig Jahre später wurden 20.000 Ballen Baumwolle von 1.600 Arbeitern an täglich zehn Stunden zu 5 Mio. Kilogramm Garn verarbeitet. Nach nur 25 Jahren hatte sich die Leipziger Baumwollspinnerei zur größten Spinnerei des Kontinents entwickelt, in der 240.000 Spindeln, 20.000 Zwirnspindeln und 208 Kämmmaschinen rotierten.

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