Vierzehn Tage in Havanna
Einem langgehegten Wunsch folgend, reiste ich mit meiner Tochter Linda nach Havanna.
Wir landeten an einem heißen Abend auf dem Jose Marti International Airport. Die schwüle Hitze empfing uns mit der ganzen Wucht einer tropischen Nacht. Nachdem wir die Passkontrollen hinter uns hatten, eilten wir zu den Gepäckbändern, denn wir wollten so schnell wie möglich an die frische Luft. Dass es diese in Havanna nicht gibt, ahnten wir noch nicht. Aber unsere Eile war völlig fehl am Platz, denn wie wir schon sehr bald feststellen mussten, waren wir bereits im real existierenden Sozialismus angekommen. Gefühlt alle 20 Minuten plumpste ein Koffer auf das Gepäckband und drehte einsam seine Runden, bis einer der unzähligen Reisenden ihn an sich nahm.
Na, das kann ja heiter werden, dachte ich. Und damit sollte ich Recht behalten.
Endlich vor dem Flughafengebäude angekommen, schauten wir uns nach dem Fahrer um, der uns abholen sollte. Aber weder unsere Namen, noch der Name der Casa, die wir gebucht hatten, war auf einem der Schilder zu sehen. Wir warteten geduldig, denn wir glaubten, dass sich unser Fahrer wahrscheinlich verspätet hatte. Immer wieder drehte eine von uns eine Runde durch die wartenden Flugpassagiere und die Fahrer mit ihren Pappschildern. Von unserem Transfer gab es aber keine Spur. Nach und nach leerte sich der Vorplatz des Flughafens und schließlich blieben wir allein im Dunkeln zurück, immer umkreist von Taxifahrern, die uns ihre Dienste anboten. Wir versuchten mit unserer Vermieterin zu telefonieren, was aber leider erfolglos blieb. Schließlich entschieden wir uns, mit einer Taxifahrerin in die Altstadt von Havanna zu fahren, denn dort sollte unsere Casa liegen. Diese Taxifahrerin war die einzige Autofahrerin, die wir in Havanna sehen sollten. Hätten wir dies geahnt, so hätten wir sie wahrscheinlich wie ein seltenes Tier beäugt. Da wir aber nach europäischen Mustern dachten, war es für uns völlig normal, mit einer Frau in Richtung Habana Vieja aufzubrechen. Sie war eine von den schönen vollschlanken Mulattinnen, die im Stadtbild Havannas häufig zu sehen sind. Sie war freundlich, gar lustig und spielte kubanischen Son auf ihrem Radio. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie Sonntags in weißen Kleidern zu den Demonstrationen der „Las Damas de Blanco“ ging, den „Frauen in Weiß“, die jeden Sonntag aufs Neue in Havannas Innenstadt für die Freilassung ihrer Männer oder Söhne demonstrieren, oder einfach nur für die Einhaltung der Menschenrechte.
Diese stattliche Frau steuerte ihren alten Ford, Jahrgang 1953, sicher durch den immer noch zähen Verkehr Richtung Innenstadt. Dabei versuchte sie, sich mit ihren wenigen Brocken Englisch mit uns zu unterhalten. Sie lachte viel und dunkel, hielt aber dabei immer alles fest unter Kontrolle. In der Altstadt angekommen, hatte sie allerdings Probleme, die Straße zu finden, in der unsere Casa liegen sollte. Sie cruiste mit uns durch die engen dunklen Straßen, hupte, um die schlafenden Hunde zu vertreiben, die zu Dutzenden eingerollt auf der Fahrbahn lagen. Menschen sprangen geschickt, aber lässig zur Seite, wenn sie um die Ecken bog, immer eine schwarze Abgasfahne hinter sich herziehend. Sie fragte hier und dort nach der Villegas, der Adresse auf unserem Zettel und traf schließlich auf einen Mann, der behauptete, der Besitzer der Casa zu sein. Er war betrunken und roch nicht besonders gut. Außerdem machte er einen zerlumpten, schmutzigen Eindruck, spielte sich aber auf wie ein Großgrundbesitzer. Er schloss eine Haustür auf, an der wir uns nur schwerlich vorbeidrücken konnten, denn der Eingangsbereich dahinter war winzig. Dann standen wir vor einer steilen Treppe und der Mann bedeutete uns, nach oben zu gehen. Besonders sicher fühlten wir uns nicht, aber da wir erfahrene Reisende sind, spürten wir keine Angst. Der Mann wollte unbedingt meinen Koffer tragen und als ich ihm dies schließlich erlaubte, wäre er beinahe rückwärts damit die Treppe hinuntergestürzt. Entweder fehlte ihm an Kraft oder er hatte einfach zu viel Rum getrunken. Der Aufenthaltsraum der Casa, in den er uns brachte, machte einen ganz passablen Eindruck und schon bald kam auch die Vermieterin. Sie stellte sich als Damaris vor und bat uns Platz zu nehmen. Dann hielt sie uns erst einmal einen Vortrag darüber, wie wir uns in Havanna verhalten sollten. Sie verbot uns auch, Besuch mit in die Casa zu bringen und verlangte, dass ich am nächsten Morgen noch vor dem Frühstück mit ihr zur Bank gehen solle, um das Geld für die Miete abzuheben. Es war inzwischen weit nach ein Uhr morgens. Als ich sie fragte, ob ihre Belehrungen nicht auch bis zum nächsten Tag warten könnten, sagte sie aufgebracht: „Ich muss euch das alles erklären, denn ihr habt ja überhaupt keine Erfahrung.“
Ich musste innerlich lachen. Da sprach eine 27 jährige Kubanerin, die ihr Land noch nie verlassen hatte, von Reiseerfahrung. Ich unterbrach sie einfach und bat sie, uns unser Zimmer zu zeigen, denn wir wollten schlafen gehen, weil wir wirklich sehr müde waren. Dies tat sie, im Schlepptau ihre zwei weißen Schoßhündchen, die sie später als Wachhunde in der Casa zurückließ.
Unser Zimmer war ganz nett und hatte ein eigenes Badezimmer. Damaris verbot uns noch, im Zimmer zu essen, da sie sonst Kakerlaken bekäme. Toilettenpapier durften wir, wie auf Kuba üblich, nicht in die Toilette werfen. Wir versprachen dies und sie verabschiedete sich bis zum nächsten Morgen. Kaum war sie weg ging, ich ins Bad und trat als erstes auf eine große Kakerlake. Da Linda und ich aber schon häufig in Afrika waren, regte dies uns nicht weiter auf. Erschöpft von den Anstrengungen der Reise, legten wir uns bald schlafen und schliefen auch sofort ein.
Ungefähr eine Stunde später wurden wir von einem lauten Geräusch geweckt. Ich schaute aus dem Fenster, das auf einen Lichtschacht hinausging und sah tief unten einen Mann hantieren. Er rückte einen schweren Stein zur Seite und startete dann eine Pumpe. Diese pumpte Wasser in einen 2000 Liter Wasserbehälter, der direkt neben unserem Fenster auf einem Betonsockel stand. Es gurgelte und plätscherte mehr als eine Stunde lang und mit demselben Lärm wurde die Pumpe wieder abgestellt und verschlossen. Von Damaris erfuhren wir am folgenden Tag, dass es in Havanna nur für wenige Stunden am Tag Wasser gibt und dass die Bewohner dann ihre Wasserspeicher vollpumpen müssen, wollten sie nicht ohne Wasser dastehen.
„Aber warum gibt es das Wasser mitten in der Nacht?“, fragte ich.
„Das weiß ich nicht“, antwortete sie. „Keiner weiß das. Das Wasser kommt, wenn es kommt.“
Dass dies immer in der Nacht war, ahnte ich da noch nicht und auch nicht, dass eines Morgens unser Zimmer knöchelhoch unter Wasser stehen würde, weil ein Wasserspeicher, der auf einer Zwischendecke über unserem Badezimmer stand, übergelaufen war. Ich trat beim Aufstehen unverhofft in das Wasser und wir mussten feststellen, dass unser Gepäck durchnässt war, das aus Mangel an sonstiger Gelegenheit, vor dem Bett auf dem Boden stand. Kathi, die Frau, die Damaris bei der Arbeit half und die unser Frühstück zubereitete, schien das nicht zu stören. Sie blieb, als wir ihr aufgeregt von der Überschwemmung berichteten in der Küche und zuckte nur die Achseln. Erst sehr viel später schob sie mit einem Abzieher das Wasser auf Anordnung von Damaris mit langem Gesicht aus unserem Zimmer, durch den gesamten Aufenthaltsbereich und zum Balkon hinunter. So viel nur zu der Stimmung, die in unserer Casa herrschte. Es gäbe da noch sehr viel mehr zu berichten, z.B. dass Damaris einfach unsere Lebensmittel in den Müll warf und dass sie uns zu verstehen gab, dass wir immer unter Beobachtung stünden, aber das würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.
Linda und ich machten uns zu einem ersten Erkundungsgang durch die Altstadt von Havanna auf und schlenderten durch die Calle Obispo zur Plaza de la Catedral, schauten uns die Catedral de La Habana mit den zwei verschieden breiten Türmen an. Von dort gingen wir in die Empedrado und standen schließlich vor der La Bodeguita del Medio, der berühmten Hemingway-Kneipe. Dort gaben ein paar Musiker gerade ein Konzert und wir traten ein, um ein wenig zuzuhören. Dazu tranken wir – äußerst touristisch – einen Mojito, einen Cocktail aus Rum, Zucker, Soja und Limette.
Die Musikkapelle spielte gerade ein bekanntes Stück von Buena Vista Social Club. Ich fühlte mich vollkommen glücklich und lauschte dem Sound der Querflöte, die eine sehr schöne Kubanerin ausdrucksvoll spielte. Dann musste ich kurz zur Toilette und ging durch den Gastraum, dessen Wände über und über mit Unterschriften von Touristen aus aller Welt beschrieben sind. Als ich zurückkam war die Bodeguita war sehr gut besucht. Eine Gruppe Amerikaner war hereingekommen und stand laut redend an der Theke. Nach ein paar Minuten verließ sie die winzige Gaststube wieder und ich nutzte die Chance, um nach meiner Tochter zu sehen.
Ich bemerkte, dass der Sänger der Gruppe, ein Afrokubaner heftig mit Linda flirtete. Als die Musiker eine Pause machten, kam er zu ihr herüber und stellte sich vor. Er fragte woher die schöne Linda denn komme und verwickelte sie in ein Gespräch über Musik.
Ich sah mich um. Alles in der Bar erinnerte an den großen Schriftsteller. Über der Theke, hinter der ein Barkeeper pausenlos Mojitos mixte, hing ein Gemälde, das Hemingway zeigte und daneben Fotografien von seinen Weggefährten. Auf die Wände waren Zitate aus seinen Werken geschrieben und auf den übrigen Wandflächen hatten sich über Jahrzehnte hinweg die Gäste mit ihren Namen verewigt. Die Wände waren so dicht beschrieben, dass es den heutigen Gästen schwer fiel, noch ein Plätzchen für ihren Namen zu finden. Selbst die Theke war mit Namen übersät.
Mama darf ich dir….Ach, jetzt habe ich seinen Namen vergessen“, sagte Linda.
Wie war noch dein Name?“, fragte sie den Musiker.
„Amaury“, lachte dieser. „Das ist ein französischer Name. Ich bin ein Sklave von der Elfenbeinküste.“
„Darf ich vorstellen? Das ist meine Mutter.“
„Mama!“, rief Amaury mit hoher Stimme auf eine ganz besondere Weise, lachte mich an und griff nach seinen Rumbakugeln.
Mit seinen Kollegen stellte er sich auf, um das nächsten Musikstück zu beginnen. Die kurze Pause war vorbei.
Linda und ich blieben in der Bar und hörten zu. Die Musik, die die Gruppe nun spielte, hatte einen schnellen Rhythmus. Einer nach dem anderen gaben die Musiker Solos zum Besten. Mal trat der Spieler des Kontrabass hervor und zeigte, was er seinem Instrument entlocken konnte, ein anderes Mal war es einer der Gitarristen, der sein Können zeigte. Am besten spielte aber die Musikerin auf der Querflöte. Sie stand wie selbstverständlich in all dem Trubel und in der Hitze und zauberte mit ihrem Instrument die schönsten Klänge. Dabei wirkte sie so frisch, als stünde sie unter einem Baum im Schatten. Sie trug eine sehr enge rosa Hose und ein weißes enges Top. Amaury führte in einem Sprechgesang einen Dialog mit einem Kubaner, der gerade in die Bar gekommen war. Beide waren gute Sänger, aber Amaury hatte die markantere Stimme. Ihm schien es ein Vergnügen zu sein, zusammen mit dem Gast zu singen. Er strahlte über das ganze Gesicht. Auch er wirkte frisch, obwohl es bereits wieder heiß und schwül war. An der Decke der Bar drehten träge zwei große Ventilatoren.
Eine Gruppe aus Kanada war in die La Bodeguita del Medio gekommen. Sie bestand aus jungen Männern, die alle eine dicke Zigarre rauchten. Im Nu war die Luft rauchgeschwängert. Die Männer bestellten je einen Mojito, obwohl offensichtlich war, dass sie bereits betrunken waren, dabei war es noch Vormittag. Nach kurzer Zeit begannen sie die Flötistin anzupöbeln, sodass Amaury eingreifen musste. Zum Glück verließen die Männer die Bar bald darauf und ich konnte wieder durchatmen. Linda schien das alles nicht zu stören. Sie war bester Laune und bewegte sich im Rhythmus der Musik.
In der nächsten Pause kam Amaury zu uns herüber und rückte seine riesige Brille zurecht, die so eindeutig zum Sozialismus passte, als hätte er sie aufgesetzt, um das Klischee zu bestätigen.
„Habt ihr Lust, heute Abend mit mir auszugehen?“
Linda reagierte eher zurückhaltend und wollte gerade ablehnen, als ich erfreut bejahte.
„Wo willst du uns denn hinführen?“, fragte ich.
„Das werdet ihr dann schon sehen. Kommt einfach um 17 Uhr vorbei. Dann bin ich hier fertig und habe frei.“
„So lange musst du noch hier singen?“
„Ja, aber das ist normal.“
Während ich mich auf den Abend freute, blieb Linda skeptisch.
„Was soll denn schon passieren?“, fragte ich. „Wir sind doch zu zweit. Ich finde es großartig, dass wir mit einem Einheimischen ausgehen. Wir werden bestimmt etwas erleben! Anders als die meisten Touristen.“
„Aber wir kennen den Mann doch gar nicht. Wer weiß, wo er uns hinführt.“
„Da habe ich keine Bedenken“, wiegelte ich ab. „Verlass dich auf mein Gefühl.“
Pünktlich um 17 Uhr standen wir vor der Bar. Wir hatten uns hübsch angezogen und zurecht gemacht. Ich trug ein weißes Kleid und Linda ein trägerloses Shirt zu einem glockig geschnittenen leichten Minirock. Ihre dunklen Haare trug sie offen und sie vielen sehr weich über ihre Schultern.
Amaury schien nicht damit gerechnet zu haben, dass wir wirklich kommen würden. Wahrscheinlich lud er ständig Frauen ein, hatte aber selten Erfolg damit. Jedenfalls schien er hoch erfreut zu sein, uns zu sehen. Er half seinen Kollegen, die Instrumente in einem Auto zu verstauen und kam dann zu uns herüber.
„Okay, lasst uns gehen“, sagte er aufgeräumt.
Niemand hätte ihm angemerkt, dass er mindestens sieben Stunden musiziert und gesungen hatte. Nur sein weißer Anzug war ein wenig in Mitleidenschaft gezogen. Amaury zog sein Jacket aus, das er den ganzen Tag tapfer getragen hatte, trotz der drückenden Schwüle. Darunter kam ein schwarzes T-Shirt zum Vorschein, das seine muskulösen Arme freigab. Er trug eine schwere silberne Gliederkette um den Hals, an der eine großes silbernes Kreuz hing. Ein sehr auffälliger Schmuck. Insgesamt war er ein langer schlaksiger Kerl. Er war schlank, aber nicht mager, gutaussehend, aber nicht schön. Seine Augen hinter den großen Brillengläsern wirkten dominierend in seinem dunklen Gesicht.
Er führte uns durch die Straßen der Altstadt, vorbei am Hotel Plaza und überquerte mit uns den Passeo de Marti. An der Ecke Consulado und Neptuno blieben wir stehen und winkten einem der privaten Taxis. Ein alter amerikanischer Straßenkreuzer hielt an und wir kletterten auf die verschlissene Rückbank aus Leder. Amaury sagte etwas unverständliches zum Fahrer und los ging die Fahrt durch den chaotischen Verkehr der Stadt. Irgendwo auf der La Rampa stoppte das Taxi und wir stiegen aus.
„Hier herüber“, dirigierte Amaury uns.
Er führte uns auf eine Terrasse, auf der ein paar Plastiktische und Stühle standen. Hinter einer abgenutzten Theke befand sich ein großer Kühlschrank mit Glastür, der außer einigen Flaschen Bier leer war.
Linda hatte Hunger, musste aber feststellen, dass es wieder einmal nur Tortilla gab.
So bestellten wir Tortillas mit Tomaten und Oliven und kauften dazu Bier.
Wir hatten kaum zu essen begonnen, als eine Band in die Terrassenbar kam. Amaury sprang auf und begrüßte die Musiker erfreut.
„Die Jungs werden jetzt gleich für uns spielen“, sagte er. „Ihr werdet sehen, sie sind sehr gut.“
Und schon erklang der erste Song, „Chan – Chan“ von Buena Vista Social Club. Bald hielt es Amaury nicht mehr auf dem Stuhl. Er ging zur Kapelle hinüber, ergriff das Mikrofon und begann zu singen. Er lieferte sich dabei eine Art Duell mit dem eigentlichen Sänger der Band. Doch Amaury sang viel besser und ausdrucksstarker und der andere Sänger gab sich bald geschlagen. Mit Amaurys Auftritt änderte sich die Musik der Gruppe. Sie wurde schnell und ursprünglich und zog die wenigen Gäste in ihren Bann. Gab Amaury das Mikrofon zurück und kam zu uns an den Tisch, wechselte die Band in Salsarhythmen.
Im Laufe des Abends ergriff Amaury immer wieder die Gelegenheit, seine eigenartigen Sprechgesänge zum Besten zu geben. Die Stimmung war gut und wir wurden immer wieder zum Tanzen aufgefordert. Linda tanzte den kubanischen Salsa, als wäre sie eine Einheimische. Sie hatte den Tanz in Deutschland gelernt und geht dort häufig in Salsalokale. Amaury, der ein Auge auf Linda geworfen hatte, rief immer wieder auf seine verrückte Weise ihren Namen.
„Linda!“, rief er und führte sie zur Tanzfläche. Dort tanzte er mit ihr auf sehr erotische Weise, bis ihm plötzlich einfiel, dass er wieder singen könne. Dann ließ er sie einfach stehen und griff nach dem Mikrofon.
Später am Abend kamen drei russische Touristen mit einer wunderschönen dunkelhäutigen Kubanerin und setzten sich an einen Tisch in der Nähe der Musik. Die Kubanerin, die sehr schlank und beweglich war, tanzte sehr ausdrucksstark den erotischen Salsa. Sie nahm einen Mann nach dem anderen mit auf die Tanzfläche, drehte ihm den Rücken zu, bewegte ihre Hüften und schwang mit ihrem kleinen runden Po vor dessen Unterleib herum. Dabei machte sie grazile Bewegungen mit den Armen, legte diese dem Mann um den Hals, zog ihn zu sich herunter und ließ sich küssen. Die russischen Männer, die sie so umtänzelte, wirkten alle sehr schwerfällig und unbeweglich. Besonders einer, der sehr groß war und einen ziemlichen Rundrücken hatte, erinnerte an einen Tanzbär. Keiner der Männer war in der Lage den Takt zu halten. Es war irritierend, den grotesken Szenen zuzuschauen. Zwischen den Tänzen saß die Kubanerin, die offensichtlich noch sehr jung war, am Tisch der Russen und lutschte an ihrem Daumen. Sie schien dann abzudriften in eine andere Welt, war aber sofort wieder präsent, wenn einer der Männer sie ansprach. Plötzlich tauchten wie aus dem Nichts zwei Freundinnen der Kubanerin auf, die je einen der Männer übernahmen. Auch sie tanzten gut und viel, wenn sie auch dick waren und einen recht primitiven Eindruck machten. Doch das schien die Männer, die inzwischen viel getrunken hatten, nicht zu stören. Irgendwann verließ die Gruppe die Bar und ich fragte mich voller Mitleid, was die Frauen von diesen Männern wohl noch zu erdulden haben würden.
Weit nach Mitternacht schloss die Bar und Amaury rief ein Taxi, um zur Altstadt zurückzufahren. Vor der Casa wurde Amaury plötzlich zudringlich. Er wollte unbedingt mit Linda schlafen und drängte darauf, mit in ihr Zimmer zu gehen. Ich kam ihr zu Hilfe.
„Tut mir leid, Amaury“, sagte ich scheinheilig. „Leider ist es uns verboten, Einheimische mit in die Casa zu nehmen. Man hat uns angedroht, uns bei Zuwiderhandlung für die Tür zu setzen.“
Amaury schaute mich skeptisch an. Aber es schien ihm nicht neu zu sein, dass er als Kubaner draußen bleiben musste. Nach ein paar weiteren schwachen Versuchen, Linda davon zu überzeugen, dass nichts passieren könne, gab er sich schließlich geschlagen und ging enttäuscht davon.
„Das hast du gut gemacht“, lachte Linda. „Ohne deine Hilfe wäre ich ihn nicht mehr losgeworden.“
Am nächsten Morgen beschlossen wir, unser Frühstück nicht in der Casa einzunehmen. Wir gingen in ein Bistro auf der Calle O`Reilly. Hier lief über der Theke, die ein Relikt aus der Kolonialzeit war, der Fernseher. Es war vormittags gegen zehn. Wir saßen an einem einfachen Holztisch und frühstückten. Der Kaffee war gut und stark doch die Tortilla, die wir, seit wir in Havanna waren, beinahe jeden Morgen aßen, schmeckte ein wenig fad. Schon um diese Tageszeit wurde im Fernsehen eine Baseballübertragung gesendet. Der Ton des Geräts war ziemlich laut gestellt und störte uns bei unserer Unterhaltung. Linda wollte den Kellner gerade bitten, die Lautstärke ein wenig zurückzunehmen, als ich sie auf etwas aufmerksam machte.
„Schau mal, da vorne“, sagte ich und wies mit dem Kopf in Richtung Fensteröffnung.
Dort gab es ein Fenstergitter aus gedrechselten braunen Holzstäben. Die Stäbe wurden von außen von Männerhänden in allen Schattierungen der Farbe braun umfasst, sodass von innen nur die Finger zu sehen waren. Sechs Fingerpaare, die einen braun wie Zimt, die anderen eher kaffeebraun und wieder andere dunkel wie Schokolade, waren das einzige, was von den Zaungästen zu sehen war.
„Das wäre ein gutes Foto“, sagte ich. „Die Aussage dieses Bildes ist kaum zu übertreffen.“
Wir hatten seit unserer Ankunft in Havanna schon häufiger gesehen, dass die Einheimischen draußen vor den Lokalen standen und versuchten, etwas von dem, was sich drinnen abspielte, mitzuerleben. Wir waren uns nicht sicher, warum die Bewohner Havannas nicht in die Bars und Restaurants kamen. War es ihnen verboten oder lag es ganz einfach am finanziellen Gefälle?
„Sie können es sich nicht leisten, hereinzukommen“, vermutete Linda. „Bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 12 Euro ist das undenkbar. Überlege mal, was hier ein Kaffee kostest.“
„Ja, und ein Bier kostet rund zwei Euro. Deshalb stehen die armen Leute abends auch immer draußen“, fügte ich an.
Und so war es wirklich. Ganz gleich, ob wir in das Café Paris gingen oder in eine andere Bar, überall standen draußen Kubaner und schauten in die Lokale, wie in ein Aquarium. Dies gefiel mir nicht, aber ich konnte es nicht ändern. Wann immer ich konnte, gab ich Menschen auf der Straße 5,-Euro, bis Linda sagte: „Du verschenkst noch unser ganzes Geld.“ Und damit hatte sie Recht, wie ich einsah und ich hielt mich ein wenig zurück.
Die Altstadt Havannas wirkte auf uns ein bisschen wie ein Freilichtmuseum. Die meisten Häuser waren ziemlich baufällig, hatten aber doch ihren Charme bewahrt. Die alten Autos, die alle noch aus der Zeit vor der Revolution, also von vor 1959 stammten, waren zum größten Teil sehr gepflegt und glänzten in der Sonne. Wie ihre Besitzer es schafften, die Motoren am Laufen zu halten, war mir ein Rätsel. Jetzt weiß ich, dass die Autos alle Ersatzmotoren haben, die meist zu klein für solch schwere Wagen sind.
Am dritten Abend in Havanna gingen wir in die Kunstgalerie „El Ojo del Ciclón“, weil wir gehört hatten, dass dort Tango getanzt würde. Dort lernten wir den jungen Künstler Enrique kennen, der uns fortan durch die Stadt führte. Er zeigte uns die Sehenswürdigkeiten, aber auch Stadtteile, die sonst kaum ein Tourist betritt. Dort glaubten wir, in Dar es Salaam zu sein, so arm und dürftig lebten dort die Menschen, die beinahe alle Afrokubaner waren. Wir besuchten das Chinesische Viertel, das Castillo de los Tres Reyes del Morro und setzten mit einer Fähre über den Canal de Entrada, um der großen Christusstatue auf der östlichen Seite der Bahia de la Habana einen Besuch abzustatten. Vormittags waren Linda und ich meist allein unterwegs und besichtigten den den Palacio de los Capitanes Generales, das Museo de Arte Colonial oder das Museo Nacional de Bellas Artes. Nachmittags kam dann Enrique und zeigte uns das andere Havanna.(Näheres über Lindas und Enriques Geschichte findest du in meinem Artikel „Hochzeit in Havanna“)
An einem Tag machten wir einen Ausflug zu Havannas Hausstrand, Playas del Este. Der Weg dorthin war sehr beschwerlich. Wir fuhren mit einem Linienbus, der so vollgestopft mit Passagieren war, dass ich direkt neben dem Fahrer stehen musste. Dort hatte es einmal eine Barriere aus Metall gegeben, die nun abgebrochen war. Der Rest der Stange, ein sehr spitzes und scharfes Metallstück befand sich nun an meiner linken Bauchseite und ich hatte alle Mühe, mich so zu festzuhalten, dass mich die Stange beim Bremsen des Busses nicht verletzte oder Schlimmeres. Mit diesem Bus fuhren wir dann etwa 30 Minuten über die Autobahn. Ich schwitzte schrecklich und der Schweiß lief hinter meiner Sonnenbrille in meine Augen. Ich hatte aber keine Hand frei, um ihn wegzuwischen, denn ich musste mich mit einer Hand an einer Haltestange festklammern und mit der anderen meinen Bauch vor dem Metallrest schützen. Ich konnte also zwischen entzündeten Augen oder einer Wunde am Bauch wählen. Endlich konnten wir den Bus verlassen, mussten dann aber noch mindestens 1 ½ Kilometer durch die sengende Sonne gehen, ehe wir endlich den Strand erreichten. Dort machten wir es uns unter einer Palme bequem. Wir schwammen, lasen und dösten in der Hitze. Das Meerwasser war warm und brachte keine Erfrischung. Ich war froh, als wir endlich wieder zurückfuhren. An diesem Tag holte ich mir trotz Schatten und Sonnenschutzcreme einen sehr schweren Sonnenbrand, der mein Wohlempfinden in den letzten Tagen in Havanna sehr beeinträchtigte.
Abends saßen wir nun beinahe immer mit Enrique und seinen Freunden auf dem Malecón, oder Linda und Enrique tanzten Tango in der Galerie. Ich besuchte derweil eines der vielen Cafés, trank dort ein Bier und hörte den Musikgruppen zu, die beinahe überall auftraten. Das war sehr schön und ich vermisse es bis heute. Leider bekam ich in den Kneipen meistens nur ein Bier, denn die Planwirtschaft hatte wieder einmal versagt. Auch in den Restaurants war es oft schwierig, etwas zu bestellen. Auf den Speisekarten gab es viele unterschiedliche Gerichte, in Wirklichkeit war die Auswahl aber sehr begrenzt und meistens servierte man uns nur Reis mit schwarzen Bohnen. Wir besuchten auch viele von den kleinen Familienrestaurants, die sich oft auf der 1. Etage eines alten Hauses befanden. Diese Restaurants werden in Havanna „Das letzte Abendmahl“ genannt, weil sie nicht mehr als 12 Gäste bewirten dürfen.
An unserem fünften Tag in Havanna wären wir beinahe von einem Balkon erschlagen worden. Wir hatten gerade einen schönen alten Wagen bewundert und fotografiert. Als wir uns erst wenige Meter davon entfernt hatten, hörten wir einen lauten Knall. Wir drehten uns um und mussten sehen, dass genau dort, wo wir noch vor kurzem gestanden hatten, ein Balkon auf der Straße lag. Er war aus dem dritten Stock abgestürzt und in zahlreiche Stücke zerbrochen. Menschen kamen aufgeregt herbeigelaufen und wir beobachteten aus sicherer Entfernung, wie sie die Trümmer des Balkons zur Seite schoben, damit die Straße wieder befahrbar wurde. Dort lagen sie auch noch am Ende unseres Aufenthalts. In Havanna sagt man, dass man immer in der Straßenmitte gehen soll, damit man nicht von herabstürzenden Gebäudeteilen erschlagen wird. Aber genau das hatten wir gemacht und wären beinahe trotzdem getroffen worden.
Es gibt noch viel über Havanna zu berichten. Positives und Negatives. Probleme gibt es auf Kuba mehr als genug, aber die Menschen, die dort leben, machen das Beste daraus.
Meine Tochter Linda hat in Havanna ihre große Liebe gefunden. Über ihre Hochzeit, die auf Kuba stattfand, berichte ich in einem anderen Artikel – Hochzeit in Havanna
Text: © Xenia Marita Riebe
Fotos: © Marion Ehrhardt und Xenia Marita Riebe
Diese Fototasse mit einem Motiv aus Kuba findest du neben anderen Kubatassen in meinem Shop.
Sehr schön lebendig geschrieben! Hatte fast das Gefühl, auch dort gewesen zu sein!
Hallo Meike,
danke, es freut mich, dass dir mein Artikel gefällt. Kannst du dich noch an Linda erinnern? Du hast sie in Ütterath kennengelernt, als sie noch ein kleines Mädchen war.
Liebe Grüße
Xenia Marita