Goethe – Die Sternwarten-Szene in Wilhelm Meisters Wanderjahre

Die Sternwarten-Szene in Wilhelm Meisters Wanderjahre, 10.Kapitel, Erstes Buch

Versuch einer Deutung

Wilhelm und sein Sohn Felix sind Gast im Hause Makaries, einer ältlichen wunderwürdigen Dame. Einer ihrer Mitarbeiter ist Mathematiker und Astronom, hinter dem sich ein bekannter Zeitgenosse Goethes verbirgt, der Gothaer Hofastronom Franz Xaver von Zach. Zachs eigene Sternwarte auf dem Gothaer Seeberg, war eine der modernsten Forschungsstätten um 1800. Im Sommer 1801 stattete ihr Goethe einen langen Besuch ab, den er als „angenehm und lehrreich“ beschrieb und der als prägend für diese Szene im ersten Buch des Wilhelm Meisters angesehen werden darf:

Sternwarte Seeberg
Sternwarte Seeberg, Gotha um 1800

Nach einigen Stunden ließ der Astronom seinen Gast die Treppen zur Sternwarte sich hinaufwinden und zuletzt allein auf die völlig freie Fläche eines runden, hohen Turmes heraustreten. Die heiterste Nacht, von allen Sternen leuchtend und funkelnd, umgab den Schauenden, welcher zum erstenmale das hohe Himmelsgewölbe in seiner ganzen Herrlichkeit zu erblicken glaubte. Denn im gemeinen Leben, abgerechnet die ungünstige Witterung, die uns so oft den Glanzraum des Äthers verbirgt, hindern uns zu Hause bald Dächer und Giebel, auswärts bald Wälder und Felsen, am meisten aber überall die inneren Beunruhigungen des Gemüts, die, uns alle Umwelt mehr als Nebel und Mißwetter zu verdüstern, sich hin und her bewegen.

Ergriffen und erstaunt hielt er sich beide Augen zu. Das Ungeheure hört auf, erhaben zu sein, es überreicht unsre Fassungskraft, es droht, uns zu vernichten. »Was bin ich denn gegen das All?« sprach er zu seinem Geiste; »wie kann ich ihm gegenüber, wie kann ich in seiner Mitte stehen?« Nach einem kurzen Überdenken jedoch fuhr er fort: »Das Resultat unsres heutigen Abends löst ja auch das Rätsel des gegenwärtigen Augenblicks. Wie kann sich der Mensch gegen das Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kräfte, die nach vielen Seiten hingezogen werden, in seinem Innersten, Tiefsten versammelt, wenn er sich fragt: ›Darfst du dich in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes, um einen reinen Mittelpunkt kreisend, hervortut? Und selbst wenn es dir schwer würde, diesen Mittelpunkt in deinem Busen aufzufinden, so würdest du ihn daran erkennen, daß eine wohlwollende, wohltätige Wirkung von ihm ausgeht und von ihm Zeugnis gibt.

Wer soll, wer kann aber auf sein vergangenes Leben zurückblicken, ohne gewissermaßen irre zu werden, da er meistens finden wird, daß sein Wollen richtig, sein Tun falsch, sein Begehren tadelhaft und sein Erlangen dennoch erwünscht gewesen?

Wie oft hast du diese Gestirne leuchten gesehen, und haben sie dich nicht jederzeit anders gefunden? sie aber sind immer dieselbigen und sagen immer dasselbige: ›Wir bezeichnen‹, wiederholen sie: ›durch unsern gesetzmäßigen Gang Tag und Stunde; frage dich auch, wie verhältst du dich zu Tag und Stunde?‹ – Und so kann ich denn diesmal antworten: ›Des gegenwärtigen Verhältnisses hab‘ ich mich nicht zu schämen, meine Absicht ist, einen edlen Familienkreis in allen seinen Gliedern erwünscht verbunden herzustellen; der Weg ist bezeichnet. Ich soll erforschen, was edle Seelen auseinanderhält, soll Hindernisse wegräumen, von welcher Art sie auch seien.‹ Dies darfst du vor diesen himmlischen Heerscharen bekennen; achteten sie deiner, sie würden zwar über deine Beschränktheit lächeln, aber sie ehrten gewiß deinen Vorsatz und begünstigten dessen Erfüllung.«

Das tiefe sinnliche Erleben des Raumes wird ermöglicht durch beste Beobachtungsbedingungen:

Nach einigen Stunden ließ der Astronom seinen Gast die Treppen zur Sternwarte sich hinaufwinden und zuletzt allein auf die völlig freie Fläche eines runden, hohen Turmes heraustreten. Die heiterste Nacht, von allen Sternen leuchtend und funkelnd, umgab den Schauenden, welcher zum erstenmale das hohe Himmelsgewölbe in seiner ganzen Herrlichkeit zu erblicken glaubte. Denn im gemeinen Leben, abgerechnet die ungünstige Witterung, die uns so oft den Glanzraum des Äthers verbirgt, hindern uns zu Hause bald Dächer und Giebel, auswärts bald Wälder und Felsen, am meisten aber überall die inneren Beunruhigungen des Gemüts, die, uns alle Umwelt mehr als Nebel und Mißwetter zu verdüstern, sich hin und her bewegen.

Hubble Deep Field
Hubble Deep Field Bild: NASA, ESA, G. Illingworth, D. Magee, and P. Oesch (University of California, Santa Cruz), R. Bouwens (Leiden University), and the HUDF09 Team

Doch der Blick in die ungeheuren Weiten des Alls läßt ihn erschaudern:

Ergriffen und erstaunt hielt er sich beide Augen zu. Das Ungeheure hört auf, erhaben zu sein, es überreicht unsre Fassungskraft, es droht, uns zu vernichten

Hier drängt sich die Parallele zum Meer auf, einer vergleichbaren Erfahrung des grenzenlosen Raumes wie Goethe sie beschreibt auf seiner Fahrt nach Sizilien. Hat man sich nicht ringsum vom Meere umgeben gesehen, so hat man keinen Begriff von Welt und seinem Verhältnis zur Welt Diese neue Raumvorstellung wird beim Anblick des Alls nochmals vertieft und erweitert. Dieses, das menschliche Fassungsvermögen übersteigende Erfahren scheinbar unendlicher Dimensionen ruft Schaudern und Ehrfurcht zugleich hervor. Zweifel an jeglicher anthropozentrischer Sicht melden sich deutlich: . »Was bin ich denn gegen das All?« sprach er zu seinem Geiste; »wie kann ich ihm gegenüber, wie kann ich in seiner Mitte stehen?«

Der Himmel in Gestalt des unendlichen Alls läßt sich nicht mehr durch Betrachtung erfahren, das Sehen weicht der inneren Reflexion. Wilhelm schließt die Augen vor dem ungeheuren Anblick des Himmels, damit eine Vorstellung der Unendlichkeit des Kosmos in seinem Inneren sich bildet.

Nietzsche geht noch einen Schritt weiter und spricht von der furchtbaren Erfahrung des Unendlichen in seinem Aphorismus Im Horizont des Unendlichen:

Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen!

Wir haben die Brücken hinter uns, – mehr noch, wir haben das

Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh‘ dich vor!

Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und

mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei der Güte.

Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er

unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit

. . . Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob

dort mehr Freiheit gewesen wäre, – und es gibt kein Land

mehr!«

Welchen Platz nimmt nun der Mensch ein in diesem Weltbild? Goethe läßt seinen Protagonisten Wilhelm in Form einer Frage antworten

Wie kann sich der Mensch gegen das Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kräfte, die nach vielen Seiten hingezogen werden, in seinem Innersten, Tiefsten versammelt, wenn er sich fragt: ›Darfst du dich in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes, um einen reinen Mittelpunkt kreisend, hervortut?

Der Mensch kann diesem Horizont des Unendlichen nur begegnen, sich im Zentrum dieser ewig lebendigen Ordnung nur begreifen, wenn es ihm gelingt, das Selbst im Mittelpunkt eines eigenen Kosmos zu erfahren. Genauso wie es im inflationären Universum kein ausgezeichnetes Zentrum geben kann, vielmehr jeder Ort im All auch als Mittelpunkt aller anderen Orte verstanden werden kann, wirkt das um einen reinen Mittelpunkt kreisende beharrlich Bewegte in jedem reflektierenden Individuum als tröstender Schutz vor der Bedrohung, die von der unfassbaren Vorstellung der Unendlichkeit ausgeht.

Und selbst wenn es dir schwer würde, diesen Mittelpunkt in deinem Busen aufzufinden, so würdest du ihn daran erkennen, daß eine wohlwollende, wohltätige Wirkung von ihm ausgeht und von ihm Zeugnis gibt

Nicht einmal das bewusste Erleben eines solchen Mikrokosmos im Menschen ist Voraussetzung für dessen wohltätige Wirkung – hier allerdings gibt der Protagonist einem gesetztem Sein den Vorzug vor dem aktiven Hervortun mittels Reflexion und bewusster Innenschau.

Die Konfrontation mit den unvermeidbaren Widersprüchen zwischen Denken und Handeln, dieses Schwanken der Gefühle, dieser stete Wandel von Geist und Seele, all dieser dem Menschen innewohnende Unstetigkeit steht der ewig gleich verlaufende unveränderbare Lauf der Gestirne gegenüber, das Universum als Korrelat zum Verhalten des Individuums:

Wie oft hast du diese Gestirne leuchten gesehen, und haben sie dich nicht jederzeit anders gefunden? Sie aber sind immer dieselbigen und sagen immer dasselbige: ›Wir bezeichnen‹, wiederholen sie: ›durch unsern gesetzmäßigen Gang Tag und Stunde; frage dich auch, wie verhältst du dich zu Tag und Stunde?

Die Antwort, die Wilhelm Meister bereithält, ist begründet in Goethes Vorstellung vom edlen, guten hilfreichen Menschen, der durch sein Streben nach sittlicher Vervollkommnung dem Ungeheuren des Alls (selbst)-bewusst begegnen kann:

Und so kann ich denn diesmal antworten: ›Des gegenwärtigen Verhältnisses hab‘ ich mich nicht zu schämen, meine Absicht ist, einen edlen Familienkreis in allen seinen Gliedern erwünscht verbunden herzustellen; der Weg ist bezeichnet. Ich soll erforschen, was edle Seelen auseinanderhält, soll Hindernisse wegräumen, von welcher Art sie auch seien.‹ Dies darfst du vor diesen himmlischen Heerscharen bekennen; achteten sie deiner, sie würden zwar über deine Beschränktheit lächeln, aber sie ehrten gewiß deinen Vorsatz und begünstigten dessen Erfüllung.

Nietzsche folgt diesem Pfad der Tugend nicht, bemerkenswert, seine so konträre Vorstellung (hier gegen Kant als Moralisten):

Die „Tugend“, die „Pflicht“, das „Gute an sich“, das Gute mit dem Charakter der Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit – Hirngespinnste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftung des Lebens, das Königsberger Chinesenthum ausdrückt

Nietzsche läßt den Menschen in seiner Not angesichts des Ungeheuren allein:

O Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! Dich schauend schaudere ich vor göttlichen Begierden.

In dem 1805 herausgegebenen Sammelwerk „Winckelmann und sein Jahrhundert“ finden sich unter „Antikes“ folgende Worte Goethes, die entgegen Nietzsches nüchterner Entzauberung des Unendlichen Universums, dem fragend-suchenden Individuum Trost spenden:

Wenn die gesunde Natur des Mensche als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines freies Entzücken gewährt – dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens  und Wesens bewundern. Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstrassen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewusst seines Daseins erfreut?

Bernd Riebe

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