Das Problem der Induktion in Karl Poppers kritischem Rationalismus
Einige kritische Überlegungen zum Prozess wissenschaftlicher Erkenntnis
Karl Poppers Kritischer Rationalismus bezeichnet eine wissenschaftstheoretische Position, deren Hauptthese lautet: Alles Wissen ist hypothetisch und alle Beobachtungen und Handlungen sind hypothesengeleitet bzw. theoriegeleitet. Der Kritische Rationalismus begründete sowohl für die Natur- als auch für die Sozialwissenschaften eine neue Forschungspraxis. Der Grundgedanke des Kritischen Rationalismus besteht darin, dass die Existenz einer universellen objektiven Wahrheit, die unabhängig von den Subjekten besteht, vorausgesetzt wird. Das Ziel wissenschaftlicher Forschung besteht darin, sich dieser objektiven Wahrheit vermittels der Methode der kühnen Vermutungen und der sinnreichen und ernsten Versuche sie zu widerlegen schrittweise anzunähern. Dies steht im Gegensatz zu den Positivisten, die davon ausgehen, dass alle möglichen wissenschaftlichen Aussagen der empirischen Überprüfung im Rahmen systematischer Beobachtung standzuhalten haben. Zudem wird die Auffassung vertreten, dass wissenschaftlicher Fortschritt durch Verallgemeinerung der Beobachtungsergebnisse auf der Grundlage induktiver Verfahren (Induktion) zu erzielen ist. Demgegenüber wird von Popper die deduktive Methode (Deduktion) des Schließens postuliert. Die logische Richtigkeit wird für die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes einer Aussage jedoch nicht als ausreichend betrachtet. Jede Aussage hat auch der empirischen Kritik, der Kritik der Realität, an der die Hypothesen scheitern können, standzuhalten. Dies setzt erstens ein Postulat voraus, gemäß dem es eine reale Welt gibt, die unabhängig vom Subjekt besteht und so die Überprüfungsinstanz der Wahrheit unserer Hypothesen bilden kann. Zweitens ist damit das Prinzip der Falsifikation verbunden, das im Gegensatz zur Verifikation nicht auf die Bestätigung einer Hypothese ausgerichtet ist, sondern auf deren Widerlegung. Mit der Anwendung des Falsifikationsprinzips soll der wissenschaftliche Fortschritt nicht wie beim Positivismus auf der Grundlage der Verallgemeinerung von Beobachtungsdaten erzielt werden, sondern durch die Widerlegung bisher für wahr gehaltenen Wissens wie auch der aufgestellten Hypothesen. Der Kritische Rationalismus ist in diesem Sinne als empirisch revidierbarer Rationalismus zu verstehen. Das darin enthaltene Postulat der Kritik fordert, dass wir unser Wissen, aus dem wir im Rahmen der Wissenschaftsanwendung (deduktiv) die Folgerungen für unsere Handlungen ableiten, immer als vorläufig, als hypothetisch zu betrachten haben. Es ist stets der kritischen Überprüfung auszusetzen. Der Wissenschaftsfortschritt beruht demzufolge auf den Prinzipien der Widerlegung und Kritik und ist in diesem Sinne als evolutionärer Prozess zu verstehen.
Das Induktionsproblem
Die Behauptung, dass es möglich ist, eine Theorie endgültig zu widerlegen, und dass in der Falsifikation der größere Gewinn zu sehen ist als in der Verifikation, ist – zu Recht wie ich meine – umstritten, nicht aber die Kernaussage seiner Erkenntnistheorie:
Unsere Versuche, Wissen über unsere Welt zu erlangen, enthalten nur ein einziges rationales Element: die kritische Prüfung unserer Theorien. Die Theorien selbst sind Versuche, die Lösung eines Problems zu erraten: bestenfalls eine Vermutung.
Wie aber nähern wir uns der Wahrheit am besten, wie erreichen wir eine gesicherte Erkenntnis?
Hier stehen zwei Verfahren zur Debatte, die von David Hume und Popper propagierte Deduktion und die von John Stuart Mill u.a. vertretene Position, dass die Methode der Induktion dasFundament allen Wissens sei: die Induktion ist diejenige Verstandesoperation, durch welche wir schließen, daß dasjenige, was für einen besonderen Fall oder besondere Fälle wahr ist, auch in allen Fällen wahr sein wird, welche jenem in irgend einer nachweisbaren Beziehung ähnlich sind“ (Mill, 1980, S. 160).
Zur Verdeutlichung zunächst einige Begriffserklärungen.
Deduktion beschreibt ganz allgemein den Prozess, aus bestimmten Beobachtungen oder Prämissen Erkenntnisse abzuleiten oder daraus logisch zu schlussfolgern. Mit Deduktion ist klassisch die Stoßrichtung vom Allgemeinen zum Besonderen oder von der Theorie zur Empirie verbunden.
Induktion dagegen beschreibt den umgekehrten Weg, also den Prozess, für Sachverhalte oder Beobachtungen mithilfe von Abstraktion und Verallgemeinerung eine Theorie oder Gesetzmäßigkeit zu entwerfen. Klassisch ist mit Induktion die Erkenntnisrichtung vom Besonderen zum Allgemeinen oder von der Empirie zur Theorie verbunden.
Ein berühmtes Beispiel zur Deduktion – Von der Regel und dem Fall wird das Resultat abgeleitet:
- Alle Menschen sind sterblich. (Regel)
- Sokrates ist ein Mensch. (Fall)
- Sokrates ist sterblich. (Resultat)
Ein induktives Verfahren wäre wie folgt:
- Platon war ein Mensch. Aristoteles war ein Mensch. Epikur war ein Mensch. (Fälle.)
- Platon ist gestorben. Aristoteles ist gestorben. Epikur ist gestorben. (Resultate)
- Alle Menschen sind sterblich. (Regel.)
Karl Popper zitiert den Physiker und Mathematiker Max Born für eine knappe Formulierung des Induktionsproblems: ..keine Beobachtung und kein Experiment, wie ausgedehnt auch immer, kann mehr liefern als eine endliche Zahl von Wiederholungen, daher transzendiert die Aufstellung eines Gesetzes – B ist von A abhängig – immer unsere Erfahrung. Und dennoch werden Aussagen dieser Art immer und überall aufgestellt –
(M Born, Natural Philosophy of Cause and Chance (1949) S.6.)
Der englische Philosoph David Hume formulierte schon 1740 Einwände gegen eine induktive Methode der Erkenntnisgwinnung. Demnach halten wir Ereignisse für Ursachen und Wirkungen, wenn wir sie wiederholt aufeinander folgen sehen, da wir dann automatisch glauben, diese Folge sei auch in Zukunft so zu erwarten:
Daher ist es unmöglich, daß irgendwelche Begründungen durch Erfahrung diese Ähnlichkeit der Vergangenheit mit der Zukunft belegen können, denn all diese Begründungen beruhen ja auf der Voraussetzung dieser Ähnlichkeit.
(David Hume:Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Frankfurt am Main 2007, S. 59.)
Hume zeigt also, dass es nicht möglich ist,eine Theorie aus Beobachtungssätzen abzuleiten wohl aber läßt sich eine Theorie aus Beobachtungssätzen widerlegen.
Popper sieht ebenso die Empirie als Grundprinzip der Erkenntnisgewinnung...da das Schicksal einer Theorie, ihre Annahme oder Ablehnung, durch Beobachtung und Experiment entschieden wird, durch das Ergebnis von Prüfungen. Solange eine Theorie die schwersten Prüfungen besteht…wird sie akzeptiert, wenn nicht, wird sie verworfen. Aber sie wird niemals in irgendeinem Sinn, von empirischen Tatsachen abgeleitet. Nur die Falschheit einer Theorie kannaus empirischen Tatsachen abgeleitet werden, und diese Ableitung ist rein deduktiv.
Popper glaubt – wie Hume – dass alle induktiven Schlüsse logisch unhaltbar sind. Dagegen gibt es viele deduktiv .gültige Schlüsse und sogar einige partielle Kriterien für die deduktive Gültigkeit; aber es gibt kein Beispiel eines gültigen Induktionsschlusses
Er geht aber noch weiter und sieht – anders als Hume – in der Induktion keine Tatsache, von der in irgendeiner Weise Gebrauch gemacht wird: Ich behaupte, dass weder Tiere noch Menschen irgendein Verfahren wie die Induktion…verwenden. Was wir tatsächlich verwenden ist eine Methode von Versuch und Fehlerausmerzung, wie immer täuschend ähnlich diese Methode der Induktion auch sehen mag, ihre logische Struktur, wenn wir sie genau untersuchen, ist von derjenigen der Induktion vollkommen verschieden.
John Stuart Mill gilt bis heute als einer der Hauptvertreter des empirisch orientierten Denkens. Für Mill galt die Induktion als methodisches Fundament allen Wissens, das er hauptsächlich mit Methoden zur Untersuchung von einzelnen Kausalzusammenhängen zu analysieren versuchte. Laut Mill ist die Induktion […] diejenige Verstandesoperation, durch welche wir schließen, daß dasjenige, was für einen besonderen Fall oder besondere Fälle wahr ist, auch in allen Fällen wahr sein wird, welche jenem in irgend einer nachweisbaren Beziehung ähnlich sind (Mill, 1980, S. 160).
Kritik
Imre Lakatos und Thomas Kuhn modifizierten das ursprüngliche Popper’sche Modell des kritischen Rationalismus. Kuhn bezweifelt, dass das Verfahren der Entwicklung, Erprobung, Modifikation und Ablehnung von Theorien zu einer permanenten Veränderung der Wissenschaft führt. Eine Schwäche des kritischen Rationalismus besteht darin, dass einige seiner Theorien letztlich nicht falsifiziert werden können (z.B. die Gravitation oder auch vieles im Bereich der Astronomie.).
Schaut man sich bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisprozesse genauer an, so läßt sich sagen, das sowohl Deduktion als auch Induktion beteiligt sind. Mir ist kein ausschließlich induktives oder deduktives Verfahren im Bereich der Naturwissenschaften bekannt. So ist eine Induktion nicht denkbar ohne etabliertes theoretisches Wissen, das als Voraussetzung für die primären Beobachtungen und Messungen nötig ist und auch die Deduktion kann nur von Prämissen ausgehen, die letztlich eine gewisse empirische Basis haben und von dieser (induktiv) herleiten.
Oft beginnt wissenschaftliche Arbeit mit einer induktiven Schlussfolgerung, um dann deduktiv die Schlussfolgerung zu bestätigen oder zu widerlegen.
Allerdings gilt für beide Verfahren wie für die Wissenschaft allgemein: Die Ergebnisse sind nie wirklich verifizierbar, jedoch falsifizierbar und somit nur lange gültig, bis eine bessere Theorie oder Beschreibung besteht oder neue Erkenntnisse berechtigte Zweifel aufwerfen.
Abschließend noch ein aktuelles Beispiel zur Verdeutlichung der Verschränkung und unterschiedlichen Anwendung der oben beschriebenen Verfahren.
Die Studie des Universitätsklinkums Hamburg wird hier in der Rheinischen Post vom 02.07.2020 mit dem hervorgehobenen Ergebnis vorgestellt: Corona befällt viele Organe beim Menschen. Wie verlief der wissenschaftliche Erkenntnisprozess, der zu diesem scheinbar gesicherten Ergebnis führte? Ausgehend von zuvor wiederholt festgestellten Befunden mittels offensichtlich empirischer Verfahren gab es vor der Studie bereits eine relativ sichere Erkenntnis: SARS-CoV-2 infiziert bevorzugt die Atmungsorgane – ein klassisch induktiver Schluss! Daraufhin wurde möglicherweise die Prämisse vorgegeben: Weitere Organe sind betroffen. Wieder wurde die Empirie bemüht und das Virus tatsächlich in vielen anderen Organen nachgewiesen mit einem klassisch deduktiven Schluss: SARS-CoV-2 ist somit ein „Multiorganvirus, welches zahlreiche Organe befällt
Welche Organe sind besonders betroffen? Dies mag eine weitere Fragestellung der Wissenschaftler gewesen sein. Die Empirie verwies eindeutig auf die Nieren. Dieses Ergebnis korrelierte mit einem auffäligen Urinbefund, also ein weiteres empirisch ermitteltes Resultat. Hinzu kommt noch eine statistische Auswertung, die eine extrem hohe Rate an akutem Nierenversagen zeigte.
Dieses Geflecht aus induktiv gewonnenen Schlussfolgerungen sowie deduktiv abgeleiteten Resultaten auf empirischer Basis auf der Grundlage von theoretischem Wissen und Intuition kennzeichnet recht deutlich den komplexen Prozess, der zur Gewinnung neuer Erkenntnisse führt. Poppers diesbezügliche erkenntnistheoretische Überlegungen mögen in weiten Teilen überzeugen und logisch einwandfreie Argumente liefern, sie bleiben jedoch idealtypische Konstrukte, die den komplexen Prozess wissenschaftlicher Arbeit nur ungenügend beschreiben.
Fazit
Die Suche nach Wahrheit wird ein immerwährender Prozess bleiben. Es wird immer nur Annäherungen geben und keine endgültigen Gewissheiten. Theorien müssen durch Falsifizierung geprüft werden. Die Verfahrensweisen sind nicht wirklich reduziert auf induktive und deduktive Schlüsse. Wissen ist das Produkt eines evolutionären Prozesses. Objektives Wissen ist ein Produkt der kollektiven Leistungen der Forschenden, das sich nicht auf die Summe der individuellen subjektiven Wissensbeiträge reduzieren lässt.
Bernd Riebe
Textgrundlage und alle nicht näher bezeichneten Zitate:
Karl Popper, Lesebuch, Ausgewählte Texte zur Erkenntnistheorie, David Miller (Hrsg)
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