Zoran Mušič: Erinnerungen an Dachau – Wir sind nicht die Letzten

Du denkst daran, die AfD zu wählen? Dann lies diesen Text des Malers Zoran Mušič, der das Konzentrationslager Dachau überlebte, und du wirst erfahren, wohin uns das rechte Gedankengut der AfD  führen kann.

Zoran Mušič

Man lebte in einer Welt, die jede Vorstellungskraft überfordert. In einer absurden, irrealen Welt, die einen in den Wahnsinn trieb. Vielleicht lebten wir auf einem anderen Planeten. Mit seltsamen Regeln, mit einer genauen Ordnung, so grausam, wie man sie sich nur vorstellen kann. Jeder, der auch nur die geringste Macht besaß, so unbedeutend er war, konnte einen vernichten wie einen Wurm. Und wir akzeptierten die Realität, als gäbe es keine andere mögliche Ordnung. Das gelang so perfekt, dass wir vor der Ordnung außerhalb des Lagers – die doch schon jenseits des Stacheldrahts begann – sogar noch mehr Angst hatten. Das wurde uns beim Anblick derer klar, die wieder eingefangen und zurückgebracht wurden. Ich dachte nicht mehr mit den Gedanken, die man im gewöhnlichen Leben hat. Ich verbrachte meine Tage mit apathischem Abwarten in einer Landschaft von Toten und Sterbenden. Tagsüber durften wir nicht in den Baracken bleiben, wir wateten im Schlamm umher und waren der Kälte ausgesetzt. …..Überall Haufen von Leichen. Mittags die Suppe – ein zum Skelett abgemagerter Mensch, der sich gerade noch aufrecht halten konnte, umklammerte sein Essgeschirr mit den Händen und sah sich nach einer Ecke um, in der er seine Suppe herunterschlingen konnte. Er entdeckte einen leeren Platz auf dem Kopf einer Leiche und setzte sich darauf, um die Flüssigkeit, die kaum nahrhaft, aber wenigstens warm war, hineinzuschlürfen. Er kümmert sich nicht darum, wo er sitzt und wo er seinen Brotkanten hinlegen soll. Andere lehnen an der mauer wie verirrte Schafe, dicht aneinandergedrängt, um ein wenig Wärme abzubekommen. Wir bewegten uns in langsamen Rhythmus: einmal nach rechts, einmal nach links, und murmelten einen traurigen, monotonen Refrain. ….

Mein Gehirn arbeitet, funktioniert auf eine ganz andere Art und weise. Für Logik bleibt nicht mehr der geringste Platz. Keinerlei Mitleid mit diesen Toten. Sie sind nur noch Objekte, morgen sind wir an ihrer Stelle.

Dieses enge Nebeneinander mit den Toten entdramatisiert den Kontakt.: Alles erscheint normal. Ein ganz alltägliches Leben, wo sich Schatten und Gespenster wie in einem Nebel bewegen. Auch ich bewege mich wie ein Schlafwandler, ein Sklave, ein Automat und akzeptiere dieses irreale Schauspiel, diese totale Absurdität wie eine fortan unausweichliche Sache.

Ich beginne zaghaft zu zeichnen. Vielleicht ein Mittel um allem zu entfliehen. Es hilft mir vielleicht auch, alles zu überstehen. Ich versuche es zuerst heimlich., Dinge, die ich auf dem Weg zur Fabrik sehe, die Ankunft eines Konvois, einen Viehwaggon, durch dessen halbgeöffnete Tür man Leichen herausquellen sieht. Die Reise hat einen Monat oder vielleicht noch länger gedauert, ohne Nahrung, ohne Trinken, alles hermetisch verriegelt. Einige Überlebende sind wahnsinnig geworden, sie schreien, ihre Augen quellen fast aus den Höhlen. Darüber der unbeschreibliche Gestank von Verwesung und Schutz.

Später zeichne ich im Lager selbst. Die Tage vergehen. …. Bald ergreift mich eine unwiderstehliche Sucht zu zeichnen. Während der letzten Wochen im Lager hat die Gefahr, entdeckt zu werden, ein wenig abgenommen. Es gelingt mir, Papier und Tinte in der Fabrik zu verstecken.

Ich zeichne wie in Trance, klammere mich wie ein Geisteskranker an meine Papierfetzen. Ich war wie geblendet, diese Leichenfelder waren wir eine mächtige Wahnvorstellung. …..

Ich war wie besessen, voller Furcht, Verrat zu begehen an diesen jämmerlichen Gestalten, ich wollte sie so festhalten, wie ich sie sah, so verletzlich und auf das Wesentliche reduziert. Ich war vom Fieber geschwächt und doch von dem unwiderstehlichen Drang getrieben, zu zeichnen, um diese überwältigende und schreckliche Schönheit bannen zu können. Jeden Tag arbeitete ich, als wäre es am nächsten Tag zu spät. Das Leben, der Tod, bei mir hing alles von diesen kleinen Blättern ab. Aber wird man diese Zeichnungen jemals zu Gesicht bekommen? Werde ich sie zeigen können? Werde ich lebend hier herauskommen? Wir wussten, dass unser Lager vernichtet werden sollte, und wir waren eingeschlossen mit der Munition, die die SS-Wachen zurückgelassen hatten. …

Ich habe gelernt, die Dinge anders zu sehen. Selbst in meiner späteren Malerei scheint es so, als hätte sich alles völlig geändert. Ich habe die Glückseligkeit der Kindheit wiederentdeckt, aber bestimmt nicht als Reaktion auf den Schrecken. Ponys, dalmatinische Landschaften, Frauen aus Dalmatien, das alles gab es schon vorher. Nur – danach war ich fähig, alles anders zu sehen. Durch den Anblick dieser Toten, die aller Äußerlichkeiten beraubt waren, die nichts Überflüssiges mehr an sich hatten, die befreit waren von der Maske der Hypokrisie und von allen Unterscheidungsmerkmalen, auf die sich die Menschen und die Gesellschaft geeinigt haben, glaube ich die Wahrheit entdeckt zu haben, die schreckliche, traurige Wahrheit, die zu finden mir vergönnt war. Die dalmatinischen Landschaften sind wieder da, aber alles Überflüssige und Eitle ist verschwunden. Es sind noch einige Landschaften um Siena dazugekommen – und es sind auch nackte Leichen da, von Unwettern gebeutelt. Und wenn es nur meiner Malerei genützt hätte – diese großartige Lektion habe ich gebraucht.
Zoran Mušič, aus Mušič , Mailand 1980, Seiten 23 – 27

Zoran Mušič wurde am 12. Februar 1909 in Bukovica bei Görz in Österreich-Ungarn geboren. Er studierte an der Akademie der Schönen Künste in Zagreb. Von März bis Juni 1935 hielt er sich in Spanien auf und nach einer zeit in Dalmatien siedelte er nach Venedig über. 1944 wurde er von den Nationalsozialisten in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Dort entstanden ungefähr 200 Zeichnungen, die das Leben, Leiden und Sterben in Dachau dokumentierten. Leider blieben nach Kriegsende von diesen Zeichnungen nur 35 erhalten. Sie bildeten die Grundlage für Zoran Mušič 1970 geschaffene Werk „Nous ne sommes les demiers“ (Wir sind nicht die Letzten).
Im Jahr 2016 wurden weitere 23 Zeichnungen aus Dachau im Archiv des nationalen Partisanenverbandes Italiens in Triest entdeckt.

Zoran Mušič kehrte 1945 nach Venedig zurück. Er nahm 1948 an der ersten Biennale nach dem 2. Weltkrieg in Venedig teil, gefolgt von den Biennalen von 1950, 1954, 1956, 1982 und 1985.

Er starb am 25. Mai 2005 in Venedig.

Text: Xenia Marita Riebe

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