Siegmund und Sieglinde

Siegmund und Sieglinde

Neulich erzählte mir meine Freundin Kerstin folgende Geschichte.

Vorweg: Kerstin hat einen Zwillingsbruder namens Bertram. Schon als Kinder waren beide musikalisch begabt und erlernten beinahe spielend ihre Musikinstrumente. Kerstin das Cello und Bertram die Querflöte.  Deshalb nannten Freunde der Familie die beiden oft Siegmund und Sieglinde, denn sie fanden es angemessen,  das musikalische Geschwisterpaar nach Figuren aus der Wagneroper “Die Walküre” zu benennen.

Kerstin arbeitet in einem Sinfonieorchester. Sie ist eine hübsche Frau mittleren Alters und alleinstehend aus Überzeugung. Eines Tages kam ein neuer Tubist in das Orchester und schon wenige Tage darauf begann er, Kerstin den Hof zu machen. Er lud sie zum Essen ein und versuchte, wann immer es möglich war, sie nach der Vorstellung mit seinem Wagen nach Hause zu bringen. Kerstin ließ sich dies zu erst gefallen, brachte es ihr doch die Annehmlichkeit, abends spät nicht mehr mit dem Orchesterbus nach Hause fahren zu müssen. Dazu kam, dass ihr Instrument nicht eben leicht ist. Dies ging ein paar Wochen so und der Kollege, der übrigens Falko heißt, glaubte scheinbar, Kerstin für sich gewinnen zu können. Deshalb setzte er alles auf eine Karte und besorgte für die Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth gleich für vier aufeinanderfolgende Abende Karten. Er wollte mit seiner Angebeteten “Der Ring des Nibelungen” anschauen und vor allem anhören. Dazu buchte er zwei Zimmer in einem Hotel in der Bayreuther Innenstadt.

Als er Kerstin wiedereinmal nach Hause gebracht hatte, übergab er ihr vor der Haustür einen Briefumschlag, mit der Bitte, diesen erst in ihrer Wohnung zu öffnen.

Erwähnen muss ich hier wohl, dass sich Kerstin nichts aus Falko machte, ja, dass es ihr nicht besonders recht war, dass er so heftig um sie warb. Da sie ihn aber nicht verletzen wollte, sagte sie ihm dies bis zu diesem Zeitpunkt nicht und ließ weiter zu, dass Falko immer in ihrer Nähe weilte.

Doch dann öffnete sie den Umschlag und fand zu ihrem Erstaunen die Festspielkarten und eine Einladung zu einer Woche in Bayreuth einschließlich Unterbringung im Hotel. Kerstin glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Was dachte Falko sich eigentlich? Glaubte er wirklich, dass er sie auf diese Weise für sich gewinnen konnte? Nein, das war unmöglich. Kerstin begann zu grübeln. Wie konnte sie ihren Kollegen auf Abstand halten, ohne ihn zu kränken. Ihr fiel kein anderer Weg ein, als ihm zu sagen, dass sie nicht mit ihm zu den Richard-Wagner-Festspielen fahren könne. Einen triftigen Grund, würde sie sich schon noch ausdenken.

Doch als sie am nächsten Tag bei der Probe die Sprache darauf brachte, wiegelte Falko ab. Er wolle davon nichts hören, sagte er. Er kenne ihre Einstellung, sich nichts schenken lassen zu wollen. Aber unter Freunden, und er zwinkerte dabei mit dem Auge, wäre es nicht angebracht, sich derart zu zieren.

Kerstin war verzweifelt. Sie hatte nicht die geringste Lust, mit Falko zu verreisen und ihn dann Tage lang auf Abstand halten zu müssen. Dies behagte ihr gar nicht. Außerdem fürchtete sie das Gerede der Kollegen und sie wollte auf keinen Fall, dass im Orchester Vermutungen über sie und Falko angestellt würden. Allein der Gedanke daran, trieb ihr schon die Schamröte ins Gesicht. Jetzt war guter Rat teuer.

In ihrer Not telefonierte sie mit ihrem Zwillingsbruder, der in einer Stadt im südlichen Deutschland Flötist an einer Oper war. Bertram sagte während des Gesprächs leichthin: „Also, ich würde fahren.“

„Nach Bayreuth?“, fragte Kerstin und ein Funke Hoffnung keimte in ihr auf.

„Ja, warum denn nicht?“, versetzte ihr Bruder.

Und so verabredeten die Geschwister, dass Bertram an Kerstins Stelle mit Falko in den “Ring” gehen solle.

Falko erklärte sie, dass sie zur Zeit der Festspiele in der Nähe von Bayreuth bei einer Tante zu Besuch sei. Sie wolle ihn am Vorabend der Aufführung am Bahnhof in Bayreuth treffen. Eine Zeit wurde verabredet und am letzten Spieltag der Saison verabschiedeten sich beide freundlich in den Urlaub.

Dann nahten die Bayreuther Festspiele.

Falko wurde von Tag zu Tag nervöser und brach früher als nötig nach Bayreuth auf. Am verabredeten Tag zur verabredeten Stunde stand er mit einem Rosenstrauß auf dem Bahnsteig. Der Zug aus Nürnberg fuhr ein und Falko wartete gespannt auf Kerstin. Doch so sehr er auch schaute, er konnte sie unter den Reisenden nicht entdecken. Da klopfte plötzlich jemand auf seine rechte Schulter. Freudig drehte er sich um und schaute in das Gesicht eines Mannes, das dem von Kerstin sehr ähnlich sah.

„Guten Tag, ich bin Bertram, Kerstins Bruder.“

„Kerstins Bruder? Ist Kerstin etwas passiert?“

„Nein, Kerstin ist nur unpässlich. Und das hat,  ehrlich gesagt,  mit Ihrer Einladung nach Bayreuth zu tun.“

„Mit meiner Einladung? Ich verstehe nicht.“

„Na ja, meine Schwester hatte Bedenken und bat mich deshalb, sie zu vertreten. Alles weitere erkläre ich Ihnen nach der Vorstellung. Die Karten habe ich übrigens dabei.“

Falko verstand sofort. „Eine Erklärung wird wohl nicht nötig sein“, sagte er tapfer. „Tja, machen wir halt das Beste daraus. Interessieren Sie sich für Musik?“

„Das will ich meinen, ich bin Flötist.“

Und so gingen die beiden Männer gemeinsam zu den vier Vorstellungen des “Rings”. Als die “Götterdämmerung” sie überwältigt zurückließ, waren sie bereits Freunde geworden. Kerstin war in den Pausen  immer wieder Gesprächsstoff gewesen und Falko sah nun ein, dass er sich unbegründet zu weit vorgewagt hatte. Er versprach, sich bei Kerstin zu entschuldigen.

„Das wird nicht nötig sein“, versicherte Bertram. „Es wäre meiner Schwester nur unangenehm.“

Ihr kennt Kerstin nicht. Würdet ihr sie, wie ich, kennen, so wäre bei euch ein Schmunzeln über diese Geschichte sicher.

Text: © Xenia Marita Riebe

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