Ein Einhorn im Vorgarten


Für Sophia

In einem großen stillen Wald lebte an einer Quelle einmal eine Herde Einhörner. Das Wasser der Quelle floss reichlich und war kühl. Die Einhörner tranken gerne davon. Unter den hohen alten Bäumen fanden sie viele Büsche mit zarten jungen Sprossen, an denen sie knabberten und das Gras auf den Lichtungen war zart und frisch. Es war ein guter Platz zum Leben. Der Wald war sehr groß und einsam, aber er grenzte an einer Seite an ein kleines Dorf, das inmitten von grünen Hügeln lag.

Marie und Leon

In diesem Dorf lebten Marie und Leon. Die beiden waren Bruder und Schwester und sie wohnten mit ihren Eltern in einem alten Fachwerkhaus, das von einem wilden Garten umgeben war. Hier spielten die beiden oft. Sie dachten sich Geschichten von Gespenstern, Kobolden und Feen aus und manchmal gruselten sie sich selbst vor dem, was sie sich erzählten. Dann lehnte Marie sich an die Schulter ihres Bruders und fühlte sich gleich sicherer.
Marie liebte Einhörner. Und sie liebte es, sich vorzustellen, dass im Wald hinter ihrem Haus Einhörner lebten. Dabei ahnte sie nicht, wie recht sie damit hatte.

Die Häuser im Dorf hatten alle gepflegte Vorgärten. Auch vor dem alten Fachwerkhaus gab es solche Beete, die von ihrer Mutter ordentlich bepflanzt wurden. Hier wuchsen die schönsten Blumen und ein kleiner Apfelbaum breitete seine Zweige aus. Die Mutter hielt dieses kleine Stück Garten peinlich in Ordnung, denn sie wollte mit den anderen Dorfbewohnern keinen Ärger haben. Im Garten hinter dem Haus ließ sie alles wachsen wie es wollte. Dort standen hohe Farne, in denen im Herbst Spinnweben glitzerten, Efeu rankte an den Bäumen hoch und an den Sträuchern hingen im Sommer dicke glänzende Beeren. Der Garten war ein Paradies für Leon und Marie. Hier ließ es sich Spielen und Fantasieren.

Hanno im Wald

Im Wald bei den Einhörnern stand der junge kräftige Hengst Hanno unter einem Baum und sah verliebt zu einer jungen Stute hinüber. Die Stute war zart gebaut und bewegte sich auf ihren schlanken Beinen beinahe geräuschlos durch den Wald. Ihre Mähne war lang und blond und wenn das Licht durch die Äste fiel, brach es sich in ihrem Haar und ließ es aufleuchten. Sie hatte einen schmalen langen Hals und ein wundervolles gedrehtes Horn. Ihre Augen waren sanft und braun. Hanno konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Er überlegte, wie er ihr Herz gewinnen könnte.

Eines Abends kam ihm eine Idee. Er würde ins Dorf gehen und für Rosalie Blumen pflücken. Glücklich über seinen Einfall, wartete er, bis die anderen Einhörner dicht aneinandergekuschelt eingeschlafen waren. Hanno erhob sich vorsichtig und schlich sich leise davon. Er trabte durch den Wald, den er so gut kannte, dass ihm das Mondlicht zur Orientierung reichte. Schon bald hatte er den Waldrand erreicht. Er blieb kurz stehen und witterte in die Luft. Alles war ruhig. Im Dorf waren alle Lichter aus, es drohte ihm keine Gefahr. So trabte er mutig auf des Dorf zu und stand schon bald vor dem ersten Haus. Er sah im Vorgarten rote Tulpen stehen, die zur Nacht ihre Blüten geschlossen hatten. Vorsichtig ging Hanno weiter und pflückte in einem anderen Vorgarten drei rote Tulpen ab und dazu zwei gelbe Narzissen. Im Maul trug er die Blumen fort und lief zurück in den Wald.

Als die Einhörner am nächsten Morgen erwachten, ging Hanno zu Rosalie und legte die Blumen vor sie hin. Rosalie schnupperte daran, hob dann den Kopf und sah Hanno mit ihren sanften Augen freundlich an. Dann senkte sie den Kopf und fraß alle Blumen auf. Sie schienen ihr gut zu schmecken, denn sie suchte noch eine Weile den Boden nach weiteren Blüten ab. Hanno freute sich und er nahm sich vor, in der Nacht wieder Tulpen für Rosalie zu holen.

Und tatsächlich machte er sich auch in den nächsten Nächten auf den Weg zum Dorf. Nach und nach pflückte er die Blumen aus fast allen Vorgärten.
Die Bewohner des Dorfes wunderten sich natürlich darüber, dass in den Nächten ihre Blumen gestohlen wurden. Sie fragten sich, wer wohl der freche Dieb sei. Der Blumendiebstahl wurde zum Gesprächsstoff im ganzen Dorf.

An einem späten Abend stand Marie am Fenster ihres Zimmers. Sie konnte nicht einschlafen, denn Leon hatte ihr eine sehr gruselige Geschichte erzählt. Sie handelte von einem Skelett, das seinen eigenen Totenschädel unter dem Arm trug und diesen bei den Leuten ins Fenster hielt, um sie zu erschrecken.
Marie schaute hinunter zur Straße. Plötzlich kniff sie die Augen zu und machte sie schnell wieder auf. Lief dort ein Einhorn auf der Fahrbahn? Das konnte doch nicht sein! Einhörner gibt es doch nur in Geschichten und Sagen. Aber so oft sie auch wegschaute, sie sah das Einhorn wieder, wenn sie die Augen hob. Es war ein schönes kräftiges Tier mit langer Mähne und einem stolzen Horn auf der Stirn, in dem das Mondlicht glänzte. Was machte das Einhorn im Dorf? Marie wurde ganz aufgeregt. Das Tier aber trabte gemächlich über die nächtliche Straße. Marie schlich sich die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Das Einhorn war inzwischen vorbeigegangen.
Vorsichtig trat Marie vor das Haus und schaute in die Richtung, in die das Einhorn gegangen war. Wo war es nur geblieben? Die Fahrbahn lag leer im Mondschein. Da sah Marie das Einhorn. Es stand im Vorgarten von Herrn Welke und rupfte die schönen Tulpen aus, die Herrn Welkes ganzer Stolz waren. Als der Garten leergeplündert war, kam das Einhorn mit den Blumen im Maul zurück. Marie erschrak. Konnte das Einhorn sie sehen? Würde es ihr etwas tun? Doch vor lauter Faszination blieb Marie stehen. Das Einhorn kam auf sie zu und blieb, als es an ihr Haus kam, kurz stehen und sah Marie an. Dann drehte es den Kopf nach vorn und trabte davon.

Am nächsten Morgen beim Frühstück berichtete Marie ihren Eltern aufgeregt, dass sie nun wüsste, wer in der Nacht die Blumen aus den Vorgärten hole.
„Ach ja, wer denn?“, fragte ihre Mutter neugierig.
Sie freute sich schon darauf, dass sie das Rätsel lösen und den Dorfbewohnern sagen könnte, wer der Dieb sei. Dadurch würde sie für eine Zeit die wichtigste Frau im Dorf werden.
„Ein Einhorn“, sagte Marie. „Ich habe es heute Nacht selbst gesehen. Es kam aus dem Wald, ging die Straße hinunter und geradewegs zu Herrn Welkes Vorgarten. Dort hat es alle Tulpen gepflückt.“
Leon lachte und Marie stieß ihn verärgert an.
„Das ist nicht zum Lachen“, sagte sie.
„Ist es doch“, antwortete Leon. „Einhörner gibt es nur in Sagen.“
In Maries Augen traten Tränen.
„Marie“, sagte der Vater freundlich. „Du hast geträumt. Manchmal wirken Träume sehr real.“
„Ich habe nicht geträumt“, sagte Marie. „Geh doch und schau in Welkes Garten nach.“
Aber das war nicht mehr nötig, denn es läutete an der Haustür. Draußen stand Frau Klein und berichtete, dass diesmal die Blumen aus Herr Welkes Garten gestohlen worden waren.

Hanno und Rosalie

Rosalie und Hanno waren inzwischen ein Liebespaar. Sie blieben den ganzen Tag dicht beieinander. Sie grasten zusammen, tranken gemeinsam vom kühlen Quellwasser und liefen vergnügt durch den tiefen Wald.
„Woher holst du immer die leckeren Blumen?“, wollte Rosalie eines Tages wissen. „Ich habe solche Blumen hier im Wald noch nie gesehen.“
„Aus dem Dorf“, verkündete Hanno stolz.
„Du verlässt den Wald? Aber das ist verboten und auch gefährlich. Du weißt doch, dass uns keine Menschenseele jemals zu Gesicht bekommen darf.“
„Ja, ich weiß“, entgegnete Hanno. „Die Menschen glauben, dass es uns nur in Märchen und Sagen gibt.“
„Und das ist auch gut so. Wenn sie wüssten, dass wir hier im Wald leben, würden sie uns fangen und vielleicht sogar töten.“
„Ich bin sehr vorsichtig. Und du magst doch die Blumen so gerne.“
„Jetzt, wo ich weiß, woher sie sind, mag ich sie nicht mehr.“
Doch Hanno spürte, dass Rosalie es nicht ernst meinte. Ihr schien sein Mut zu imponieren und genau das wollte er ja. Er würde in der Nacht wieder losziehen, denn in den Vorgärten des Dorfes gab es noch einiges zu holen.

Marie stand beleidigt im Garten.
„Warum glaubt mir keiner?“, fragte sie ihren Bruder.
„Weil es nicht sein kann.“
Leon versuchte, den Arm um seine Schwester zu legen, denn er wollte ihr zeigen, dass er trotz allem auf ihrer Seite stand.
„Du hast doch zum Geburtstag das Fernglas bekommen?“, fragte Marie.
„Ja, und?“
„Wir könnten uns heute Nacht draußen auf die Lauer legen. Die Straße zum Wald ist ja gut einzusehen. Dann wirst du sehen, dass ein Einhorn zum Dorf kommt.“
Leon gefiel der Gedanke, sich in der Nacht aus dem Haus zu schleichen. Auch wenn er nicht an die Geschichte mit dem Einhorn glaubte, sagte er zu.
„Ist gut“, sagte er. „Ich wecke dich um halb zwölf. Einhörner kommen bestimmt um Mitternacht.“

Kurz vor Mitternacht lagen Leon und Marie hinter einem Busch am Straßenrand auf dem Bauch. Marie hatte extra eine Decke mitgebracht, denn sie wollte nicht, dass ihr Schlafanzug schmutzig wurde. Leon schaute durch sein Fernglas. Er ließ den Waldrand nicht aus den Augen. Aber er sah nichts als den schwarzen Saum des Waldes und die dunklen Silhouetten der Bäume, die sich gegen den mondhellen Nachthimmel abzeichneten.
„Lass mich auch mal sehen“, bat Marie.
Sie wusste, dass Leon ihr sein Fernglas nicht gerne gab, aber nachdem sie noch einmal mit bettelnder Stimme gefragt hatte, reichte er es ihr hinüber.
Marie stellte das Fernglas scharf. Dann stützte sie sich auf ihre Ellbogen und fixierte den Waldrand. Nach wenigen Minuten bewegte sich dort etwas und tatsächlich kam das Einhorn vorsichtig aus dem Wald.
„Ich sehe es!“, rief Marie aufgeregt. „Es kommt aus dem Wald!“
„Lass mal sehen“, sagte Leon gelassen. „Das ist bestimmt ein Reh.“
Marie reichte ihm das Fernglas.
„Das gibt`s doch nicht!“, hörte sie Leon sagen.
„Ich hab`s doch gesagt. Jetzt siehst du, dass ich nicht geträumt habe.“
„Sei still!“, befahl Leon. „Wir wollen es nicht vertreiben.“

Hanno trabte wie gewohnt zum Dorf. Als er an den Kindern vorbeikam, blieb er kurz stehen. Seine Nüstern blähten sich und er schnupperte herum. Er schien den fremden Geruch wahrzunehmen, der für ihn Gefahr bedeutete. Hanno hatte bisher noch nie einen Menschen gerochen und erst recht keinen gesehen. Er schien achtsam zu sein. Seine Nüstern bewegte er in verschiedene Richtungen und plötzlich sah er zu dem Busch hinüber, in dem die Kinder lagen. Er machte ein paar Schritte darauf zu, blieb dann aber wieder stehen und witterte.
„Es kann uns riechen“, flüsterte Marie aufgeregt.
„Er“, sagte Leon. „Er ist ein Hengst.“
Hanno machte erneut einen Schritt auf die Kinder zu. Er witterte wieder. Und dann drehte er sich plötzlich um und galoppierte davon. Kurz darauf sah Leon durch sein Fernglas, dass der Einhornhengst im Wald verschwand.
„Das glaubt uns keiner“, sagte Leon.
„Dann müssen wir es beweisen.“
„Und wie willst du das machen?“
„Wir könnten es fotografieren“, meinte Marie.
„Einhörner kann man nicht fotografieren“, behauptete Leon.
„Dann locken wir es in die alte Lagerhalle und sperren es ein“, überlegte Marie. „Mama und Papa können es dann sehen. Natürlich müssen wir es danach sofort wieder freilassen.“
„Wie soll das denn gehen? Du hast doch gesehen, wie scheu es ist.“
„Wir müssen eben dafür sorgen, dass es uns nicht wittern kann.“
„Die Windrichtung“, sagte Leon, der sich für Maries Plan bereits erwärmte. „Wir müssen darauf achten, dass der Wind unseren Geruch vom Einhorn wegträgt.“
„Genau!“, sagte Marie. „Und wir locken es mit Blumen. Wir legen eine Spur aus Tulpen und Narzissen und locken es so in die Lagerhalle. Und wenn es drin ist, machen wir schnell das Tor zu.“

Rosalie

Rosalie wartete am Morgen vergeblich auf ihre Blumen. Sie sag Hanno fragend an. Er bedeutete ihr aber, zu schweigen. Später, als sie allein durch den Wald gingen, erzählte Hanno, dass er im Dorf eine seltsame Witterung aufgenommen habe. Weil er Gefahr gespürt habe, wäre er lieber umgekehrt. Deshalb habe er keine Blumen für Rosalie pflücken können.
„Oh, wie mutig du bist“, meinte Rosalie.
„Eben nicht“, entgegnete Hanno. „Denn sonst wäre ich ja weitergegangen und hätte Blumen für dich geholt.“
„Aber du hast genau das Richtige getan. Ich möchte nicht, dass dir wegen der Blumen etwas passiert.“
„Heute Nacht gehe ich wieder und ich werde gut aufpassen, das verspreche ich dir.“
Sie legten sich nebeneinander auf eine sehr kleine Lichtung und ließen sich das weiche Fell von der Sonne wärmen.

Marie und Leon gingen inzwischen in den Supermarkt und kauften von ihrem Taschengeld so viel Tulpen, wie sie bezahlen konnten. Die Sträuße waren in Cellophan eingepackt und ließen sich schlecht tragen. Immer wieder rutschte ihnen ein Strauß von Arm und fiel zu Boden. Ein Glück, dass die Blumen nicht für die Vase bestimmt waren. Zu Hause schlichen sie sich hinter das Haus und verschwanden mit den Tulpen im Garten. Am hintersten Ende des großen Gartens stand ein altes verlassenes Lagerhaus. Nicht groß und ganz leer. Ein paar Bäumchen wuchsen im Inneren auf dem mit altem Laub bedeckten Boden. Dort in einer Ecke packten die Geschwister ihre Blumensträuße aus und brachten das Cellophan in die gelbe Tonne. Sie planten, am späten Abend die Spur aus Blumen zu legen, die direkt zur Lagerhalle führen sollte

Wieder standen die Kinder um kurz vor Mitternacht auf und holten die Tulpen aus der Lagerhalle. Vom Vorgarten aus, der noch nicht von Hanno leer gefressen worden war, legten sie Tulpe an Tulpe bis sich eine rote Spur bis zur Halle zog. Dann prüfte Leon die Windrichtung und sie suchten sich ein sicheres Versteck. Das Trampolin bot sich an, denn der Wind trug die Gerüche von dort zum Garten hinaus und sie konnten durch die Maschen des Sicherheitsnetzes den Garten im Auge behalten. Zuerst bezogen sie aber Posten auf der Straße, denn sie wollten wissen, ob das Einhorn auch wirklich kam. Angestrengt beobachteten sie abwechselnd mit dem Fernglas den Waldrand. Sie mussten lange warten und wollten gerade aufgeben, als Marie das Einhorn am Waldrand entdeckte. Es lief unschlüssig am Saum des Waldes auf und ab, so, als hätte es Angst, die Wiese zu betreten, über die es gehen musste, um zur Straße zu kommen. Doch dann rannte es plötzlich los und seine Mähne flatterte im Wind.
„Schnell weg hier!“, rief Marie. „Es kommt angaloppiert.
Sie rannten in den Garten und versteckten sich mit klopfenden Herzen hinter dem Trampolin.

Hanno

Hanno war durch die Witterung des fremden Geruchs, die er in der vergangenen Nacht aufgenommen hatte, unsicher geworden. Er überlegte eine Weile, ob er es wagen sollte, in das Dorf zu laufen. Doch dann siegte sein Wunsch, Rosalie glücklich zu machen. Er rannte los. Am Ortseingang traf er auf das Haus von Maries und Leons Eltern. Hier standen noch schöne Tulpen und von hier konnte er zur Not schnell zum Wald zurücklaufen. Aber was war das? Die Tulpen waren bereits gepflückt und er brauchte sie nur mit dem Maul aufzusammeln. Und wie viele es waren! Rosalie würde staunen und ihn noch mehr bewundern als sie es sowieso schon tat. Hanno sammelte und sammelte und merkte dabei nicht, dass er der Spur durch den Garten folgte. Auch die Kinder nahm er nicht wahr. Doch als er den Betonboden der Halle betrat, stutzte er und blieb stehen.
„Was für ein seltsamer Untergrund“, dachte er. „So hart und kalt. Und wenn ich gehe, hallen meine Schritte so laut. Nur noch ein paar letzte Tulpen und dann laufe ich schnell zurück.“
Kaum hatte er das gedacht, als er einen lauten Knall hörte. Er drehte sich um und sah, dass ihm der Rückweg abgeschnitten worden war. Er ging auf das geschlossene Tor zu und drückte mit dem Horn dagegen. Es gab nicht nach. Hanno suchte alle Wände nach einem Durchlass ab, fand aber nur ein schmales Fenster, durch das er unmöglich hinausklettern konnte. Er war gefangen. Als ihm dies klar wurde, begann er mit den Hufen zu scharren und stieg laut wiehernd mehrfach in die Höhe.

Leon und Marie liefen um die Halle herum, um durch das Fenster nach drinnen zu schauen. Sie waren so aufgeregt! Nun würden sie endlich ein Einhorn ganz aus der Nähe sehen können. Ihre Taschenlampen waren eingeschaltet. Leon wagte es zuerst, durch das Fenster zu schauen.
„Siehst du ihn?“, fragte Marie.
„Nein, wahrscheinlich steht er in einer dunklen Ecke. Ich leuchte mal hinein.“
Nun sah auch Marie zum Fenster hinein. Auch sie ließ den Strahl ihrer Taschenlampe durch den Raum gleiten. Vom Einhorn war nichts zu sehen.
„Wo ist er denn nur?“
„Ich weiß es nicht.“
„Seltsam, wir haben ihn doch gesehen, als er hineinging.“
Doch so sehr sie auch leuchteten und schauten, der Hengst war nirgendwo zu sehen. Enttäuscht schlichen die beiden ins Haus zurück. Sie waren tief in Gedanken und sprachen kein Wort. Sie glaubten beide, wohl doch nur fantasiert zu haben. Schade eigentlich!

Rosalie trinkt an der Quelle

Rosalie wartete am nächsten Morgen vergeblich auf ihren Liebsten. Hanno kam nicht zum Trinken an die Quelle und auch nicht zum Frühstück auf die Lichtung. Sie wurde sehr unruhig, denn sie wusste, dass er wieder zum Dorf gelaufen war.
„Und was, wenn ihm etwas zugestoßen ist?“, fragte sie sich.
Den ganzen Tag über war sie unruhig und traurig und sie fragte sich, was sie machen sollte. War es sinnvoll, auch ins Dorf zu laufen und dort nach Hanno zu suchen? Würde sie den Mut dazu aufbringen? In welche Lage hatte Hanno sie nur gebracht. Sie wurde ein bisschen wütend auf ihn, aber ihre Sorge um ihn war schlimmer. So beschloss sie, Hanno in der Nacht zu suchen.

Gegen Mitternacht wagte sich Rosalie vorsichtig aus dem Wald, lief über die Wiese und hinüber zur Landstraße. Bis zum Dorf war es von hier nicht weit. Da sie aber Angst hatte, beschloss sie so schnell wie möglich zu galoppieren. Wie ein Pfeil flog sie über die Straße. Ihre helle Mähne wehte im Wind. Kurz vor dem ersten Haus blieb sie stehen und horchte. War das nicht Hanno, der da wieherte? Sie folgte dem Geräusch und betrat einen verwilderten Garten. Hanno schien in dem quadratischen Haus gefangen zu sein. Sie hörte ihn darin unruhig herumscharren. Rosalie ging vorsichtig um das Gebäude herum und kam schließlich zu dem schmalen Fenster. Sie schaute hinein und sah Hanno, der gerade wiehernd aufstieg.

Rosalie schaut durch das Fenster

„Wie schön er ist“, dachte sie kurz, ehe sie sich bemerkbar machte.
„Rosalie!“, rief Hanno. „So ein Glück, dass du mich gefunden hast. Ich bin hier eingesperrt. Kannst du versuchen, das Tor zu öffnen?“
Rosalie ging zum Tor und versuchte, mit dem Maul den Riegel zu öffnen. Sie musste sich sehr anstrengen und es dauerte ziemlich lange, aber schließlich glitt der Riegel aus der Öse und das Tor sprang auf.
Hanno kam heraus und zusammen rannten sie so schnell sie nur konnten auf die Straße und von dort auf den Wald zu.

An ihrem Fenster stand Marie. Sie hatte sich heimlich das Fernglas ihres Bruders genommen und die halbe Nacht die Straße nicht aus den Augen gelassen. Natürlich hatte sie das Einhorn gesehen, das den Wald verlassen hatte. Es schien ihr aber anders auszusehen als bisher, irgendwie kleiner und zierlicher. Als es kurz vor dem Haus aus ihrem Blick verschwand, glaubte sie wieder fantasiert zu haben. Leon hatte schon recht, sie machte sich und auch ihn mit ihren Einhorngeschichten verrückt. Doch jetzt sah sie plötzlich den Hengst und das andere Einhorn zusammen im wilden Galopp die Straße hinunterlaufen.
„Sie hat ihn befreit“, dachte sie und ein Strahlen zog über ihr Gesicht.
Kurz darauf verschwanden die beiden Einhörner auch schon im Wald.
Von diesem Tag an wurden keine Blumen mehr gestohlen und die Vorgärten des Dorfes waren so schön wie eh und je.

Hanno und Rosalie verließen ihre Herde und auch den Wald nicht mehr. Sie verbrachten glückliche Zeiten unter den hohen alten Bäumen und an der Quelle. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Text: © Xenia Marita Riebe

1 Kommentar zu „Ein Einhorn im Vorgarten

  1. Hallo Marita,
    ich habe deine Geschichte gelesen und finde sie wunderschön.
    Sobald es geht, werde ich sie meiner kleinen Enkeltochter vorlesen.
    Ich wünsche dir und deiner Familie ein schönes Osterfest und bleibt gesund.
    Viele Grüße
    Heidi Pfennings ( Schops)

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