Der Zauberberg: Walpurgisnacht – Übersetzung des Französischen – Teil 1
Ein wichtiges Leitmotiv in Thomas Manns Werk “Der Zauberberg” enthält die im 5. Kapitel beschriebene Bleistift -Szene. Es ist dies die nur indirekt beschriebene Liebesnacht zwischen Clawdia Chauchat und Hans Castorp. Zudem sind große Passagen des Dialogs in französischer Sprache verfasst, so dass der nicht wirklich sprachkundige Leser die Bedeutung des Gesagten nur mittelbar erfährt. Im Folgenden haben wir die aus dem Französischen übersetzten Textstellen kursiv wiedergegeben und den übrigen Text in seiner ursprünglichen Form belassen, so dass diese für das Werk so entscheidenden Passagen verständlicher werden.
Hans Castorp aber stand auf dem Klinkerhof, blickte aus nächster Nähe in die blau-grau-grünen Epicanthus-Augen über den vortretenden Backenknochen und sprach:
„Hast du nicht vielleicht einen Bleistift?“
Er war totenbleich, so bleich wie damals, als er blutbesudelt von seinem Einzelspaziergang zur Konferenz gekommen war. Die Gefäßnervenleitung nach seinem Gesichte spielte mit dem Erfolg, daß die entblutete Haut dieses jungen Gesichtes blaßkalt einfiel, die Nase spitz erschien und die Partie unter den Augen ganz so bleifarben wie bei einer Leiche aussah. Aber Hans Castorps Herz ließ der Sympathikus in einer Gangart trommeln, daß von geregelter Atmung überhaupt nicht mehr die Rede sein konnte, und Schauer überliefen den jungen Menschen als Veranstaltung der Hautsalbendrüsen seines Körpers, die sich mitsamt ihren Haarbälgen aufrichteten.
Die im Papierdreispitz betrachtete ihn von oben bis unten mit einem Lächeln, worin keinerlei Mitleid, keinerlei Besorgnis angesichts der Verwüstung seines Äußeren zu erkennen war. Dies Geschlecht kennt ein solches Mitleid und eine solche Besorgnis überhaupt nicht vor den Schrecken der Leidenschaft, – eines Elementes, ihm offenbar viel vertrauter, als dem Mann, der von Natur keineswegs darin zu Hause ist und den es nie ohne Spott und Schadenfreude darin begrüßt. Übrigens würde er sich für Mitleid und Besorgnis ja freilich auch bedanken.
„Ich?“ antwortete die bloßarmige Kranke auf das „Du“ … „Ja, vielleicht“. Und allenfalls war in ihrem Lächeln und ihrer Stimme etwas von der Erregung, die auftritt, wenn nach langem, stummem Verhältnis die erste Anrede fällt, – einer listigen Erregung, die alles Vorangegangene in den Augenblick heimlich einbezieht. „Du bist sehr ehrgeizig … Du bist … sehr … eifrig“, fuhr sie in ihrer exotischen Aussprache mit fremdem r und fremdem, zu offenem e zu spotten fort, wobei ihre leicht verschleierte, angenehm heisere Stimme das Wort „ehrgeizig“ auch noch auf der zweiten Silbe betonte, so daß es völlig fremdsprachig klang, – und kramte in ihrem Ledertäschchen, blickte suchend hinein und zog unter einem Taschentuch, das sie zuerst zutage gefördert, ein kleines silbernes Crayon hervor, dünn und zerbrechlich, ein Galanteriesächelchen, zu ernsthafter Tätigkeit kaum zu gebrauchen. Der Bleistift von damals, der erste, war handlich-rechtschaffener gewesen.
„Voilà“, sagte sie und hielt ihm das Stiftchen vor die Augen, indem sie es zwischen Daumen und Zeigefinger an der Spitze hielt und leicht hin und her schlenkerte.
Da sie es ihm zugleich gab und vorenthielt, nahm er es, ohne es zu empfangen, das heißt: hielt die Hand in der Höhe des Stiftes, dicht daran, die Finger zum Greifen bereit, aber nicht vollends zugreifend, und blickte aus seinen bleifarbenen Augenhöhlen abwechselnd auf den Gegenstand und in Clawdias tatarisches Gesicht. Seine blutlosen Lippen standen offen, und sie blieben so, er benutzte sie nicht zum Sprechen, als er sagte:
„Siehst du wohl, ich wußte doch, daß du einen haben würdest.“
„Aber sehen Sie sich mit ihm vor; er ist leicht zerbrechlich,“ sagte sie. „Er ist zum schrauben“
Und indem ihre Köpfe sich darüber neigten, zeigte sie ihm die landläufige Mechanik des Stiftes, aus dem ein nadeldünnes, wahrscheinlich hartes, nichts abgebendes Graphitstänglein fiel, wenn man die Schraube öffnete.
Sie standen nahe gegeneinander geneigt. Da er im Gesellschaftsanzug war, trug er heute abend einen steifen Kragen und konnte das Kinn darauf stützen.
„Klein, aber dein“, sagte er, Stirn an Stirn mit ihr, auf den Stift hinunter mit unbewegten Lippen und folglich unter Auslassung des Labiallautes.
„Oh, auch witzig bist du“, antwortete sie mit kurzem Lachen, indem sie sich aufrichtete und ihm das Crayon nun überließ. (Übrigens mochte Gott wissen, womit er witzig war, da er ja offensichtlich keinen Tropfen Blut im Kopfe hatte.) „Also geh, spute dich, zeichne, zeichne gut, zeichne dich aus!“ Witzig auch ihrerseits schien sie ihn fortzutreiben.
„Nein, du hast noch nicht gezeichnet. Du mußt zeichnen“, sagte er unter Auslassung des m von „mußt“ und trat auf ziehende Art einen Schritt zurück.
„Ich?“ wiederholte sie wieder mit einem Erstaunen, das etwas anderem mehr als seiner Forderung zu gelten schien. In einer gewissen Verwirrung lächelnd blieb sie noch stehen, folgte aber dann seiner magnetisierenden Rückwärtsbewegung ein paar Schritte gegen den Bowlentisch.
Es zeigte sich jedoch, daß die Unterhaltung dort nicht mehr vorhielt, in den letzten Zügen lag. Jemand zeichnete noch, hatte aber keine Zuschauer mehr. Die Karten waren mit Unsinn bedeckt, jedermann hatte seine Ohnmacht erprobt, der Tisch stand fast verlassen, zumal eine Gegenströmung eingesetzt hatte. Da man gewahr geworden, daß die Ärzte fort waren, lautete plötzlich die Parole auf Tanz. Schon wurde der Tisch beiseite geschleppt. Man postierte Späher an die Türen des Schreib- und des Klavierzimmers, mit der Anweisung, durch ein Zeichen den Ball zum Stehen zu bringen, falls etwa „der Alte“, Krokowski oder die Oberin sich wieder zeigen sollten. Ein slawischer Jüngling griff mit Ausdruck in die Tastatur des kleinen Nußbaumpianinos. Die ersten Paare drehten sich im Inneren eines unregelmäßigen Kreises von Sesseln und Stühlen, auf denen Zuschauer saßen.
Hans Castorp verabschiedete sich von dem eben fortschwebenden Tisch mit der Handbewegung: „Fahr hin!“ Mit dem Kinn deutete er dann auf freie Sitzgelegenheiten, die er im kleinen Salon gewahrte, und auf die geschützte Zimmerecke rechts neben der Portiere. Er sagte nichts, vielleicht, weil ihm die Musik zu laut war. Er zog einen Stuhl – es war ein sogenannter Triumphstuhl, mit Holzrahmen und einer Plüschbespannung – für Frau Chauchat an den Ort, den er vorher pantomimisch bezeichnet hatte, und eignete sich selbst einen knisternden, krachenden Korbstuhl mit gerollten Armlehnen an, auf den er sich zu ihr setzte, gegen sie vorgebeugt, die Arme auf den Lehnen, ihr Crayon in den Händen, die Füße weit unter dem Stuhl. Sie ihrerseits lag allzu tief in dem Plüschgehänge, ihre Knie waren emporgehoben, doch schlug sie trotzdem das eine über das andere und ließ ihren Fuß in der Höhe wippen, dessen Knöchel über dem Rande des schwarzen Lackschuhs von der ebenfalls schwarzen Seide des Strumpfes überspannt war. Vor ihnen saßen andere Leute, standen auf, um zu tanzen und machten solchen Platz, die müde waren. Es war ein Kommen und Gehen.
„Du hast ein neues Kleid“, sagte er, um sie betrachten zu dürfen, und hörte sie antworten:
„Neu? Du bist bewandert in meiner Toilette?“
„Habe ich nicht recht?“
„Doch. Ich habe es mir kürzlich hier machen lassen, bei Lukaček im Dorf. Er arbeitet viel für Damen hier oben. Es gefällt dir?“
„Sehr gut“, sagte er, indem er sie mit dem Blick noch einmal umfaßte und ihn dann niederschlug. „Willst du tanzen?“ fügte er hinzu.
„Würdest du wollen?“ fragte sie mit erhobenen Brauen lächelnd dagegen, und er antwortete:
„Ich täte es schon, wenn du Lust hättest.“
„Das ist weniger brav, als ich dachte, daß du seist“, sagte sie, und da er wegwerfend auflachte, fügte sie hinzu: „Dein Vetter ist schon gegangen.“
„Ja, er ist mein Vetter“, bestätigte er unnötigerweise. „Ich sah auch vorhin, daß er fort ist. Er wird sich gelegt haben.“
„Er ist ein sehr genauer, sehr korrekter, sehr deutscher junger Mann.“
„Sehr genau? Sehr korrekt?“ Wiederholte er. „Ich verstehe Französisch besser, als ich es spreche. Du willst sagen, dass er pedantisch ist. Hältst du uns Deutsche für pedantisch – uns Deutsche überhaupt?“
„Von Ihrem Herrn Vetter war die Rede. Aber wirklich ihr seid ein wenig bourgeois, bürgerlich. Ihr liebt eure Ordnung mehr als die Freiheit, das weiß ganz Europa.“
„Lieben … lieben … Was ist damit gesagt Das ist zu schillernd, zu unbestimmt, das Wort.. Der Eine hat’s, der Andere liebt’s, wie ein Sprichwort bei uns sagt“behauptete Hans Castorp. „Ich habe in letzter Zeit“,fuhr er fort, „manchmal über die Freiheit nachgedacht. Das heißt, ich hörte das Wort so oft, und so dachte ich darüber nach. Ich will dir auf Französisch sagen, was ich mir dachte. Das, was ganz Europa seine Freiheit nennt, das ist vielleicht – im Vergleich zu unserem Ordnungsbedürfnis – das Pedantische, das Bürgerliche – das wollte ich sagen!“
„Hör mal an, jetzt wird es amüsant! Du hast tatsächlich an deinen Vetter gedacht bei all dem, was du da Merkwürdiges sagst?”
„Nein, er ist eine wirklich seelengut, eine einfache, unbedrohte Natur, weißt du. Aber nicht bourgeois nicht bürgerlich sondern soldatisch in einer Art“.
„Unbedroht?“ Wiederholte sie mühsam … „Du willst damit sagen: eine durch und durch gesunde, eine in sich gefestigte Natur? Aber er ist doch ernstlich krank, dein armer Vetter.“
„Wer hat das gesagt?“
„Man weiß hier voneinander.“
„Hat Hofrat Behrens dir das gesagt?“
„Möglich – als er mir seine Bilder zeigte.“
„Das heißt also: als er dich portraitierte?“
„Warum nicht! Du hälst es doch für gelungen, mein Ebenbild?“
„Natürlich, sogar äußerst gelungen. Behrens hat deinen Fleischton haargenau getroffen, wirklich sehr lebensecht. Ich, ich wäre auch auch zu gern Portraitist,schon um Gelegenheit zu haben, deinen Fleischton zu studieren – wie er!“ „Sprechen Sie Deutsch, bitte!“
„Oh, ich spreche Deutsch, auch auf Französisch. Das ist so eine Art Doppelstudium: künstlerisch und medizinisch – mit einem Wort: Es handelt sich dabei um sehr menschliche Künste und Wissenschaften, du verstehst sicher. Wie ist es nun, willst du nicht tanzen?“
„Aber nein, das ist kindisch. Hinter dem Rücken der Ärzte. Sowie Behrens zurückkommt, stürzt dann die ganze Bande gleich wieder auf ihre Liegestühle. Eine reichlich lächerliche Angelegenheit, das!”
„Hast du so großen Respekt vor ihm?“
„Vor wem?“ Fragte sie, das Fragewort kurz und fremdartig sprechend.
„Vor Behrens.“
„Aber geh doch mit deinem Behrens! Es ist auch viel zu eng zum Tanzen. Und dann auf dem Teppich da... Wollen wir zusehen, dem Tanze.“
„Ja, das wollen wir“, pflichtete er bei und schaute neben ihr hin, mit seinem bleichen Gesicht, mit den blauen, sinnig blickenden Augen seines Großvaters, in das Gehüpf der maskierten Patienten hier im Salon und drüben im Schreibzimmer. Da hüpfte die Stumme Schwester mit dem Blauen Heinrich, und Frau Salomon, die als Ballherr, in Frack und weiße Weste, gekleidet war, mit hochgewölbter Hemdbrust, gemaltem Schnurrbart und Monokel, drehte sich auf kleinen Lack-Stöckelschuhen, die unnatürlicherweise aus ihren schwarzen Herrenhosen hervorkamen, mit dem Pierrot, dessen Lippen blutrot in seinem geweißten Antlitz leuchteten, und dessen Augen denen eines Albino-Kaninchens glichen. Der Grieche im Mäntelchen schwang das Ebenmaß seiner lila Trikotbeine um den dekolletierten und dunkel glitzernden Rasmussen; der Staatsanwalt im Kimono, die Generalkonsulin Wurmbrand und der junge Gänser tanzten sogar selbdritt, indem sie sich mit den Armen umschlungen hielten; und was die Stöhr betraf, so tanzte sie mit ihrem Besen, den sie ans Herz drückte und dessen Borsten sie liebkoste, als wären sie eines Menschen aufrecht stehendes Haupthaar gewesen.
„Das wollen wir“, wiederholte Hans Castorp mechanisch. Sie sprachen leise, unter den Tönen des Klaviers. „Wir wollen hier sitzen und zusehen wie im Traum. Das ist für mich wie ein Traum, mußt du wissen, daß wir so sitzen, –wie ein sonderbar tiefer Traum, denn man muss sehr tief schlafen, um so zu träumen… Ich wollte sagen: Das ist mir ein längst vertrauter Traum, ein schon immer geträumter Traum, ein langer, ewiger Traum, ja, so neben dir zu sitzen wie jetzt – . das ist die ewige Seligkeit.”
„Dichter!“ Sagte sie. „Bourgeois, Humanist und Dichter – da habt ihr euren Deutschen in seiner ganzen Größe, wie es für ihn in der Ordnung ist!“
„Ich fürchte, wir sind ganz und gar nicht so, wie es für uns inder Ordnung ist,
antwortete er. „In keinerlei Hinsicht. Wir sind vielleicht nichts als Sorgenkinder des Lebens, nichts als das.“
“Ein hübscher Einfall. Sag mal….es wäre doch wohl nicht allzu schierig gewesen, diesen Traum etwas eher zu träumen. Der Herr entschließt sich immerhin etwas spät, ein Wort an seine ergebene Dienerin zu richten.“
„Wozu Worte machen?“, sagte er. „Wozu noch Reden? Reden, Worte machen -, das sind zwar echt republikanische Angelegenheiten, gebe ich zu. Aber ich bezweifle, dass sie in eben dem Maße auch Sache der Dichtung sind, Einer von uns Kurgästen, der sich sogar mit mir etwas angefreundet hat, Signor Settembrini..“
„Hat dir eben mit einem kleinen Wortschwall etwas zugeflüstert.“
„Wenn schon, ein großer Sprecher vor dem Herrn ist er zweifellos,er gefällt sich sogar leidenschaftlich darin, bei jeder Gelegenheit schöne Verse herzusagen,- aber ist e darum auch ein Dichter, dieser Mann?“
„Ich bedaure aufrichtig, noch nicht das Vergnügen gehabt zu haben, die nähere Bekanntschaft dieses edlen Ritters zu machen.“
„Das glaube ich gerne.“
Ah! Du glaubst.“
„Wie? Aber das war doch nur eine ganz gleichgültige Redensart, die ich eben so hinsagte. Ich.-.das wirst du wohl schon bemerkt haben – spreche ja kaum Französisch. Und doch, mit dir plaudere ich lieber in dieser Sparache als in der meinen, denn Französisch sprechen, das bedeutet mir: Sprechen, ohne etwas Bestimmtes zu sagen, – ohne Verantwortungsbewusstsein gewissermaßen, so, wie wir im Traume reden. Du verstehst mich doch wohl?“
„So einigermaßen.“
„Das ist mir genug..Worte machen“, fuhr Hans Castorp fort.
„– Ein armseliges Unternehmen! In der Ewigkeit, da redet man überhaupt nicht mehr. In der Ewigkeit, weißt du, da macht man es so, wie man es macht, wenn man ein Schweinchen zeichnen will: man legt den Kopf hintenüber und macht die Augen zu.“
„Nicht übel, das! Du bist recht zuhause in der Ewigkeit, du scheinst sie wirklich gründlich zu kennen. Ich muss schon sagen, du bist mir ein recht vorwitziger kleiner Träumer.“
„Ja, und dann,“ sagte Hans Castorp, „hätte ich dich schon früher angesprochen, dann hätte ich doch Sie zu dir sagen müssen!“
„Na schön. Aber hast du eigentlich die Absicht, mich nun für immer zu duzen“.“
„Aber selbstverständlich. Ich habe dich doch schon die ganze Zeit geduzt, und ich werde nun auch in alle Ewigkeit weiter Du zu dir sagen.“
„Das geht denn doch etwas zu weit, muss ich schon sagen. Jedenfalls wirst du aber nicht mehr allzu lange Gelegenheit haben, Du zu mir zu sagen. Ich reise ab.“
Übersetzung der französischen Textstellen von Hans Bartuschek
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