Stolpersteine für Opfer des Holocaust verlegt

Stolpersteine für Familie Nemann vor dem Haus Christianstraße 15 in Leipzig
Stolpersteine für Familie Nemann vor dem Haus Christianstraße 15 in Leipzig

Auf der Christianstraße 15 in Leipzig gibt es seit dem 14. September 2022 fünf neue Stolpersteine.

Diese Steine mit der Gravur HIER WOHNTE und den Namen und Daten der Familie Nemann werden fortan an den letzten selbstgewählten Wohnort der Familie erinnern. Die fünf neuen Stolpersteine gehören nun zu den 668 Steinen, die bisher in Leipzig verlegt wurden.

Frank Nowicky spielt eine Bourrée von Johann Sebastian Bach

Als sich schon weit vor dem Termin der Verlegung viele TeilnehmerInnen der Veranstaltung vor dem Haus Christianstraße 15 versammelten, drohte der Himmel mit dunklen Wolken. Jeder rechnete damit, dass der starke Regen, der vorhergesagt war, in Kürze einsetzen würde. Aber es blieb wider Erwarten trocken und die Zeremonie konnte ungestört beginnen. Eingeladen zu dieser Stolpersteinverlegung hatte die Arbeitsgruppe des Archivs Bürgerbewegung Leipzig e.V. und die SchülerInnen des Johannes-Kepler-Gymnasiums Leipzig in Zusammenarbeit mit dem Erich-Zeigner-Haus e.V.
Pünktlich um 11:30 wurde die Aufmerksamkeit der TeilnehmerInnen durch das Flötenspiel von Frank Nowicky gebündelt, welches hell und klar durch den Vormittag klang. Er spielte eine Bourrée von Johann Sebastian Bach.

(Frank Nowicky absolvierte sein Diplom 1992 an der Musikhochschule für Musik und Theater „Felix Mendelsson Bartholdy“ in Leipzig in den Fächern Saxophon, Klarinette, Klavier und Arrangement sowie Musikpädagogik).

Zwei junge Mitarbeiter der Behindertenhilfe Leipzig erschienen und begannen, eine bereits vom Pflaster befreite Stelle vor der Hauswand vorzubereiten. Dann brachten sie die fünf neuen Stolpersteine und platzierten sie in der gewünschten Reihenfolge. Die Stolpersteine der Eltern Nemann wurden nebeneinander gesetzt. Der linke Stein trägt die Gravur: HIER WOHNTE WILHELM ZEEV NEMANN  JG 1886  VERHAFTET 14.4.1942 ANWEISUNGEN DER GESTAPO VERWEIGERT  DEPORTIERT 1942 BELZYCE  ERMORDET. Die Gravur des rechten Steins lautet: HIER WOHNTE JOHANNA NEMANN  GEB: JACOB  JG 1895  DEPORTIERT 1942 BELZYCE  ERMORDET.
In der Reihe unter den Eltern wurden die Steine für die drei Kinder verlegt, auch diese mit den eingravierten Worten HIER WOHNTE und den Namen MIRJAM NEMANN  JG 1921 / GIDEON NEMANN  JG 1924 und JOACHIM JOCHEN NEMANN  JG 1928. Bei den beiden älteren Kindern ist deren Flucht 1939 nach Palästina bekundet. Beim jüngsten Kind der Nemanns Joachim, genannt Jochen, lautet die Gravur wie bei den Eltern: DEPORTIERT 1942 BELZYCE  ERMORDET.

Der Künstler Gunter Demnig, der die Verlegung der Stolpersteine ins Leben rief, war nicht anwesend. Da er inzwischen 75 Jahre alt ist, versucht er nach und nach die Verlegung der Steine in lokale Hände abzugeben.

Frau Dr. Jutta Faehndrich spricht zu den Anwesenden der Stolpersteinverlegung

Während die Verlegung der Steine ihren Lauf nahm, begrüßte Achim Beier von der Initiative Stolpersteine Leipzig  die Gäste der Stolpersteinverlegung. Diese Initiative hat die Federführung und koordiniert die Verlegungen der Stolpersteine in Leipzig. Neben Achim Beier (Archiv Bürgerbewegung e.V.) gehören der Arbeitsgruppe Marion Kunz (Ev. Luth. Kirchenbezirk Leipzig), Anne Friebel (Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig), Silvia Hauptmann (Ephraim -Carlebach-Stiftung), Dr. Andrea Lorz und Dr. Sven Trautmann (Referat Internationale Zusammenarbeit Stadt Leipzig), Tobias Hollitzer (Bürgerkomitee Leipzig e.V.) und Raimund Grafe (Erich-Zeigner-Haus e.V.) an.

Frau Dr. Faehndrich übersetzte die Begrüßungsworte ins Englische und stellte die Mitglieder der Familie Nemann vor, die zur Verlegung der Stolpersteine aus Israel angereist waren. Es waren die Kinder von Mirjam und Gideon Nemann und deren Familien. Die historische Recherche und die Betreuung der Familienmitglieder lag in der Verantwortung von Frau Dr. Faehndrich.

(Dr. Jutta Faehndrich ist freiberufliche Historikerin und führt biographisch-historische Recherchen für Israelis mit deutschen Wurzeln durch und erstellt in diesem Rahmen Sachgutachten für Erbscheinanträge in Restitutionsverfahren. Sie studierte Kulturwissenschaften, Germanistik, Journalistik und Amerikanistik an der Universität Leipzig und promovierte an der Universität Erfurt mit einer Arbeit über die Erinnerungskultur deutscher Vertriebener.)

Einladungstext über Familie Nemann von Dr. Jutta Faehndrich (PDF)

Die Projektgruppe des Johannes-Kepler-Gymnasium stellte auf Deutsch und Englisch die Stolpersteine als Gedenk-Form vor. Die SchülerInnen machten auch noch einmal deutlich, wozu die Stolpersteine dienen. Das Stolpern ist nicht wörtlich zu nehmen, sondern eher als gedankliches Innehalten gemeint. Auch verneigen sich die PassantInnen beim Lesen der Inschriften gleichzeitig vor den Opfern der Shoa. Den SchülerInnen war deutlich die emotionale Betroffenheit anzumerken, hatten sie sich doch lange mit dem Schicksal der Familie Nemann auseinandergesetzt und so einen direkten Zugang zum Unrecht bekommen, das den Menschen jüdischen Glaubens in Europa angetan wurde.

Schade ist, dass es nicht gelungen war, die Anwohner der Christianstraße daran zu hindern, vor dem Haus Nr. 15 ihre PKW abzustellen. Diese störten und hinderten die Besucher daran, näher heranzutreten. Da zusätzlich die Lautsprecheranlage sehr schwach war und der Lieferverkehr auf der Christianstraße wie gewohnt stattfand, waren die Ansprachen der Akteure schwer bis nicht zu verstehen.

Die emotionalste Ansprache hielt Ilan Nemann. Er stellte sich vor als Enkel von Willy und Hanna Nemann und Neffe von Jochen Nemann. Zur Einleitung ließ er Menuet aus dem Notenheft für Anna Magdalena Bach erklingen. Dann erklärte er, dass das Haus der Nemanns ein Pianohaus war. In englischer Sprache forderte er die Teilnehmer der Stolpersteinverlegung auf: „Stellt euch dieses Haus vor. Voll mit Leben. Normalem Leben. Stell dir dich selbst vor, wie du hier vorbeigehst, auf diesem Pflaster und dieselbe Musik hörst, gespielt auf dem Piano der Familie von Mirjam oder Jochen Nemann. Ein Pianostück das 1725 geschrieben wurde vom wahrscheinlich legendärsten Leipziger aller Zeiten, Johann Sebastian Bach. Was für ein Kontrast zwischen dem, was 1725 hier in Leipzig geschaffen wurde, ein kulturelles Meisterstück, und dem was geschah, hier am selben Ort, nur zwei Jahrhunderte später: die schlimmste Barbarei aller Zeiten.“

Ilan Nemann und Roni Gueron , Enkel von Wilhelm und Johanna Nemann. (Foto: G.Gärtig)

Er berichtete über seine Großeltern und deren Leben auf der Christianstraße 15. „Eine normale Familie, die versuchte, ein normales Leben im Rahmen der Gesetze zu führen, sich in der Gemeinde und beim Sport engagierte und normal zur Schule ging. Aber damals war es in Deutschland zu viel verlangt, ein normales Leben führen zu wollen, wenn du ein Jude warst. Während dieser schlimmen Jahre war unser Großvater sehr in den Versuch involviert den Leipziger Juden zu helfen aus dem Land zu entkommen. Glücklicherweise gelang es Willy und Hanna Nemann meinen damals 15 Jahre alten Vater Gideon und dessen 18 jährige Schwester Mirjam, Ronis Mutter, nach Israel zu schicken. Tragischerweise gelang es ihm nicht, seine Frau, sein jüngstes Kind und sich selbst zu retten. Auf seiner letzten herzzerreißenden Postkarte an meinen Vater schrieb er: Ich stellte die Gemeinschaft über alles und vernachlässigte unsere eigene Emigration. Am 10. Mai 1942 wurden Willy, Hanna und Jochen Nemann, mein Großvater, meine Großmutter und deren 14 Jahre alter Sohn, in den DA27 Transportzug gezwungen, von ihrer Heimatstadt Leipzig 2000 Kilometer ostwärts nach Polen, zu einem kleinen Ort namens Belzyce. Dass sie in den Zug stiegen, ist die letzte Spur, die wir von ihnen haben. Sie wurden ermordet in Sobibor, einem Vernichtungslager, oder schon vorher in Belcyce. Niemand, der mit dem DA27 abtransportiert worden war, kam zurück nach Leipzig.“

Hier die Ansprache von Ilan Nemann in englischer Sprache im Originaltext

Ilan Nemann versagte während seiner Ansprache mehrfach die Stimme, ein Zeichen dafür, wie gegenwärtig den Nachfahren von Wilhelm, Johanna und Jochen Nemann das Leid ist, das ihrer Familie angetan wurde und für die Überwindung, die es Ilan Nemann gekostet haben muss, zum ersten Mal in seinem Leben nach Deutschland zu kommen und über das Schicksal seiner Familie zu berichten. Auch den GästInnen der Stolpersteinverlegung war die Beklemmung deutlich anzusehen. Spontan trat Mirjam Nemanns Sohn, Roni Gueron, an das Mikrofon und richtete ein paar Sätze an die Anwesenden.

Inzwischen war die Verlegung der Stolpersteine abgeschlossen und die Familienmitglieder entzündeten eine jüdischen Tradition folgend Kerzen für die Ermordeten. Die SchülerInnen legten weiße Rosen nieder. Viele der Anwesenden nutzten die Gelegenheit, um vor den neu verlegten Stolpersteinen innezuhalten. Dann löste sich die Versammlung langsam auf, ohne vom Regen gestört worden zu sein.

Stolpersteine – Ein Kunstprojekt von Gunter Demnig

Gunter Demnig ist ein akademisch ausgebildeter Deutscher Künstler. Er wurde 1947 in Berlin geboren und wuchs in Nauen bei Berlin auf. Nach dem Abitur studierte er zunächst Kunstpädagogik an der Hochschule für bildende Künste in Berlin. Von 1969 bis 1970 studierte er Industrial Design an der selben Hochschule. Sein Kunstpädagogikstudium beendete er 1974 an der Kunsthochschule in Kassel mit dem Ersten Staatsexamen. Danach begann er ein Kunststudium an der Universität Kassel. Ab 1977 arbeitete er für zwei Jahre in der Planung, Bauleitung und Ausführung von Denkmalsanierungen. Von 1980 bis 1985 war er künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Kunst an der Universität Kassel. Von 1985 bis 2017 arbeitete Gunter Demnig als freischaffender Künstler in Köln und Umgebung. Ab 2017 arbeitet er in seinem Atelier in Elbenrod in Hessen.

Stolpersteine in Leipzig (Wiki Commons)

1996 begann Gunter Demnig das Projekt Stolpersteine. Er entwarf dafür Pflastersteine, auf deren Oberseite er eine Messingplatte mit den Daten der Opfer des Nationalsozialismus aufgebrachte. Dieses Projekt wird bis heute fortgeführt. Bis September 2022 wurden bereits 90 000 Stolpersteine in Europa verlegt, viele davon vom Künstler persönlich.
Die Steine werden zur Erinnerung an vom NS Regime verfolgte Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, Euthanasieopfer, Zeugen Jehovas, politisch Andersdenkende und Menschen im Widerstand vor deren letztem freigewählten Wohnort verlegt.
Die Gravur der Stolpersteine beginnt immer mit den Worten HIER WOHNTE. Dann folgt der Name, das Geburtsjahr und Angaben zu Flucht, Deportation, der Name des Konzentrationslagers, der Heilanstalt usw. Den Schluss bilden die Worte überlebt, ermordet, Flucht in den Tod und wenn bekannt, das Sterbedatum. Es gibt aber auch andere Angaben zum Schicksal der Verfolgten. Hier einige erschütternde Beispiele:

WILLY PESE  JG 1890  DEPORTIERT  27.11.1941  NACH RIGA  MASSENERSCHIESSUNG  30.11.1941  RIGA-RUMBULA

ELSE LIEBERMANN VON WAHLENDOFR  GEB HOLLÄNDER  JG 1876  GEDEMÜTIDT – DIFFAMIERT – TOT 8.1.1943

DR. FRIEDRICH CRUSIUS  JG 1897  EINGEWIESEN 1.4.1938 IN HEILANSTALT EGLFING-HAAR  VERLEGT 28.11.1940 HEILANSTALT NIEDERNHART  ERMORDET 8.3.1941

ALEXANDER DÜNKELSBÜHLER  JG 1875  GEDEMÜTIGT- ENTRECHTET- FLUCHT IN DEN TOD 24.9.1935

GUSTAV GERSINSKI  JG 1893  IM WIDERSTAND/KPD  SEIT MAI 1933 INHAFTIERT IN MEHREREN KZ`s ENTLASSEN  ENDE 1934 ERNEUT VERHAFTET  1944 „AKTION GITTER“ BERGEN-BELSEN  ERMORDET APRIL 1945
ERNA GERSINSKI  GEB JUNG  JG 1896  IM WIDERSTAND/KPD  SCHUTZHAFT 1933 ORANIENBURG MISSHANDELT  ÜBERLEBT

SAMUEL PREMINGER  JG 1878  AUSGEWIESEN 1938 POLEN  ERMORDET 12.10.1941  STANISLAUER BLUTSONNTAG

THEO HESPERS  JG 1903  FLUCHT 1933 NACH HOLLAND  VERHAFTET 1942 IN ANTWERPEN HINGERICHTET 1943 IN BERLIN-PLÖTZENSEE

ELSE FRANK  JG 1874  EINGEWIESEN AM 22.6.1942 JACOBY`SCHE ANSTALT BENDORF-SAYN  DEPORTIERT 1942 THERESIENSTADT  ERMORDET 7.8.1942

MARTHA KREISS  JG 1874  VOR DEPORTATION FLUCHT IN DEN TOD 14.1.1944

MARTIN KOHLMANN  JG 1884  DEPORTIERT 1941  ERMORDET IN RIGA
FRIEDA KOHLMANN  GEB MARX  JG 1888  DEPORTIERT 1941  ERMORDET IN RIGA
MARGIT KOHLMANN  JG 1924  DEPORTIERT 1941 RIGA  ÜBERLEBT
ERNST KOHLMANN  JG 1926  FLUCHT 1939 NACH ENGLAND  ÜBERLEBT

SOPHIE GERSON  GEB SCHULENKLOPPER  JG 1893  DEPORTIERT 1941 LODZ  ERMORDET 18.4.1942
HERBERT GERSON  JG 1923  EINGEWIESEN 1938 KINDERHEIM BEELITZ  DEPORTIERT 1942 GHETTO WARSCHAU  ERMORDET

ANNE FRANK  JG 1929  FLUCHT 1934 HOLLAND  INTERNIERT WESTERBORK  DEPORTIERT 1944 BERGEN-BELSEN  ERMORDET MÄRZ 1945
MARGOT FRANK  JG 1926  FLUCHT 1934 HOLLAND  INTERNIERT WESTERBORK  DEPORTIERT 1944 BERGEN-BELSEN  ERMORDET MÄRZ 1945

Text und Fotos © Xenia Marita Riebe

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