Der Zauberberg- Bleistift-Szene – Übersetzung der französischen Textstellen – Teil 2

Ein wichtiges Leitmotiv in Thomas Manns Werk “Der Zauberberg”  enthält die im 5. Kapitel beschriebene Bleistift -Szene. Es ist dies die nur indirekt beschriebene Liebesnacht zwischen Clawdia Chauchat und Hans Castorp.  Zudem sind große Passagen des Dialogs in französischer Sprache verfasst, so dass der nicht wirklich sprachkundige Leser die Bedeutung des Gesagten nur mittelbar erfährt. Im Folgenden haben wir die aus dem Französischen übersetzten Textstellen kursiv wiedergegeben und den übrigen Text in seiner ursprünglichen Form belassen, so dass diese für das Werk so entscheidenden Passagen verständlicher werden.

Hier der  ERSTE TEIL  dieses Beitrags

Thomas Mann
Bleistiftzeichnung (Ausschnitt) Enrique Guisado Triay

Das Wort brauchte einige Zeit, bis es ihm ins Bewußtsein drang. Dann fuhr er auf, wirr um sich blickend, wie ein aus dem Schlaf Gestörter. Ihr Gespräch war ziemlich langsam vonstatten gegangen, da Hans Castorp das Französische schwerfällig und wie in zögerndem Sinnen sprach. Das Klavier, das kurze Zeit geschwiegen hatte, tönte wieder, nunmehr unter den Händen des Mannheimers, der den Slawenjüngling abgelöst und Noten aufgelegt hatte. Fräulein Engelhart saß bei ihm und blätterte um. Der Ball hatte sich gelichtet. Eine größere Anzahl der Pensionäre schien horizontale Lage eingenommen zu haben. Vor ihnen saß niemand mehr. Im Lesezimmer spielte man Karten.

„Was tust du?“ fragte Hans Castorp entgeistert …

„Ich reise ab“, wiederholte sie, scheinbar verwundert lächelnd über sein Erstarren.

„Nicht möglich“, sagte er. „Das ist nur Scherz.“

„Durchaus nicht. Es ist mein vollkommener Ernst. Ich reise.“

„Wann?“

„Aber morgen. Nach Tisch.

In ihm ereignete sich ein umfangreicher Zusammensturz. Er sagte:

„Wohin?“

„Sehr weit fort.“

„Nach Daghestan?“

Du bist nicht schlecht im Bilde. Möglich – fürs erste..“

„Bist du denn geheilt?“

Das… nein. Aber Behrens meint, es sei vorläufig hier nicht mehr viel für mich zu erreichen. Darum darf ich eine kleine Luftveränderung schon mal wagen“

„Du kommst also wieder!“

„Das fragt sich. Es fragt sich vor allem, wann. Was mich betrifft, ich liebe, wie du weißt, die Freiheit über alles, und insbesondere die Freiheit, mir meinen Aufenthaltsort zu wählen, wie es mir passt. Du wirst kaum verstehen, was das heißt: vom Drang nach Ungebundenheit besessen sein. Das liegt mir vielleicht so im Blut.“

Und dein Herr Gemahl in Dagestan, der gibt sie dir so einfach und großzügig, – deine Freiheit?”

Die Krankheit gibt sie mir wieder. Nun bin ich schon das drittemal hier. Ein Jahr habe ich diesmal hier verlebt. Möglich, dass ich wiederkomme. Aber da wirst du schon lange über alle Berge sein.“

„Glaubst du, Clawdia?“

Mein Vorname – auch das noch! Wirklich, du nimmst sie sehr ernst, die Faschingsbräuche!“

„Weißt du denn, wie krank ich bin?“

Ja – nein – , wie man eben so etwas hier weiß. Einen kleinen feuchten Fleckhast du da drinnen, und etwas Fieber, stmmt`s?“

Siebenunddreißig- acht oder -neun nachmittags“, sagt Hans Castorp. „Und du?“

Oh, mein Fall ist, wie du weißt, etwas komplizierter … nicht ganz so einfach.“

Es gibt da so etwas in diesem Zweig menschlicher Wissenschaften, Medizin genannt”, sagte Hans Castorp, “es gibt da so etwas, das die Herren Internisten als tuberkulöse Verkapselung der Lymphgefäße bezeichnen.“

Ah, du hast schon munter herumgespitzelt, mein Lieber, sieh einer an!“

Und du … Verzeih mir! Laß mich dich jetzt etwas fragen, dich dringend und auf deutsch etwas fragen! Als ich damals von Tische zur Untersuchung ging, vor sechs Monaten … Du blicktst dich um nach mir, erinnerst du dich?“

Was für eine Frage? Vor sechs Monaten!“

„Wußtest du, wohin ich ging?“

Natürlich, das war ganz zufällig…“

„Du wusstest es von Behrens?“

Immer und immer wieder dieser Behrens!“

Oh, er hat wirklich deinen Fleischton so haargenau wiedergegeben… Übrigens, Witwer ist er, hat noch Feuer auf den Backen und besitzt ein sehr bemerkenswertes Kaffeeservice … Ich darf wohl annehmen, er kennt deinen Körper nicht nur als Arzt, sondern auch als Eingeweihter einer anderen Gattung menschlicher Künste und Wissenschaften.“

Du hast entschieden Recht, zu sagen, du redest im Traum, mein Freund.“

Sei, wie dem sei … aber lass mich von neuem hindämmern und träumen, nachdem du mich so grausam mit der Alarmglocke deiner Abreise aufgeweckt hast. Sieben Monate unter deinen Augen … Und nun, wo ich erst wirklich deine Bekanntschaft gemacht habe, nun sprichts du mir von Abreise!“

Ich sage dir noch einmal, wir hätten eher miteinander ins Plaudern kommen können.“

„Du hättest es gewünscht?“

Ich? Du kneifst mir nicht aus, mein Kleiner. Um dich selber dreht es sich. Warst du zu schüchtern, dich einer Frau zu nähern, mit der du jetzt im Traume redest oder war da jemand anders, der dich daran hinderte?“

Ich habe es dir doch gesagt. Ich wollte nicht Sie zu dir sagen.“

Schwindler. Steh Rede und Antwort. – Was hat dir dieser Signor Schönredner, dieser Italiano, der die Geselligkeit bereits verlassen hat, – da eben alles vorgeredet?“

Nicht einen Ton habe ich von alledem verstanden. Dieser Signor ist mir überhaupt ganz und gar Luft, wenn ich dich sehe. Aber du vergisst…es wäre durchaus nicht so leicht gewesen, deine Bekanntschaft in der Welt zu machen.Da war ja noch mein Vetter, dem ich mich widmen musste und der sehr wenig Neigung hat, sich hier zu amüsieren: Er denkt an nichts anderes als an die Heimkehr ins Flachland und daran, dort Soldat zu sein.“

Der arme Teufel. Er ist wirklich kränker als er weiß. Deinem Italiener geht es übrigens auch nicht viel besser.“

Er sagt es selber. Abermein Vetter…ist das wahr? Du erschreckst mich.“

Sehr wohl möglich,dass er bald sterben wird, wenn er sich zum Soldaten machen läßt in eurem Deutschland dort unten.“

Das er bald sterben wird. Der Tod. Ein furchtbares Wort, nicht wahr? Aber, sonderbar, es beeindruckt mich heute nicht so sehr, dies Wort.Es war eigentlich nur wieder so etwas wie eine Redensart, als ich eben sagte Du erschreckst mich. Der Gedanke an den Tod erschreckt mich nicht. Er läßt mich ruhig.Ich werde durchaus nicht wehleidig – weder über meinen guten Joachim noch über mich selber, nun, da ich höre, dass er vielleicht bald sterben wird. Wenn es an dem sein soll, nun, dann ähnelt sein Zustand ziemlich dem meinen und besonders großartig finde ich den nicht gerade. Er ist ein Todeskanditat und ich, ich bin ein Verliebter, nun, schön denn! – Du hast damals mit meinem Vetter im Atelier gesprochen, wo die Röntgenbilder gemacht werden,im Vorzimmer, du erinnerst dich doch noch.“

Ja, so einigermaßen.“

Das war nämlich genau an dem Tage, an dem Behrens dein Innenportrait gemacht hat!“

Aber ja doch.“

Mein Gott! Und das hast du doch noch bei dir?“

Nein, in meinem Zimmer natürlich.“

Aha, in deinem Zimmer, Mein Innenportrait, das habe ich immer bei mir in neiner Brieftasche. Willst du es mal sehen?“

Vielen Dank. Meine Neugier ist nicht unüberwindlich. Es wird jedenfalls sehr harmlos aussehen“

Ich, ich habe dein äußeres Porträt sehen dürfen. Noch lieber wäre mir, ich könnte auch dein Innenporträt sehen, das du in deinem Zimmer hast…Aber lass mich mal noch etwas anderes fragen! Manchmal, da kommt so ein russischer Herr, der in der Stadt wohnt, dich hier besuchen. Wer ist das? Was will er hier, dieser Mann?“

Du bist mir ein tüchtiger Auspionierer, das muss ich schon sagen. Nun, schön, ich stehe dir Antwort. Der, ja, der ist ein Landsman und Leidensgenosse, ein Freund von mir. Ich lernte ihn in einem anderen Badeort kennen, vor einigen Jahren schon. Unsere Beziehungen zueinander? Nun, da hast du sie: wir trinken miteinander unseren Tee, wir leisten uns gegenseitig Gesellschaft bei zwei, drei Papiros, und wir plaudern miteinander, stellen gemeinsam Betrachtungen an über den Menschen, über Gott, über das Leben, über die Moral, über tausenderlei Dinge. Da hast du ihn, meinen Rechenschaftsbericht. Bist du nun zufriedengestellt?“

Auch über die Moral! Nun, und was habt ihr beiden zum Beispiel über die Moral so herausgefunden?“

Die Moral? Das interessiert dich auch? Nun, schön, uns will scheinen, man sollte die Moral nicht in der Tugend suchen, das heißt also in der Vernunft, in der Zucht und Haltung, in den guten Sitten, in der sogenannten Anständigkeit, – sondern vielmehr in ihrem Gegenteil, ich meine so: in der Sünde, in der Hingabe an die Gefahr, an all das, was Schaden und Verderben bringt, an all das, was uns vernichten, verschlingen will. Uns will scheinen, dass es moralischer ist, sich verloren zu geben, sich sogar vernichten zu lassen, als sich zu bewahren. Die großen Moralisten, die waren durchaus nicht das, was man Tugendbolde nennt, sondern die waren Abenteurer im Bösen, in den Lastern, große Sünder, die uns lehren, wie wir uns christlich in die Sünde und die Not ergeben. All das muss dir doch wohl stark missfallen, nicht wahr?“

Er schwieg. Er saß noch immer wie anfangs, die verschlungenen Füße tief unter seinem knisternden Stuhl, vorgeneigt gegen die Liegende im Papierdreispitz, ihr Crayon zwischen den Fingern, und blickte aus Hans Lorenz Castorps blauen Augen von unten in das Zimmer, das leer geworden war. Zerstoben die Gästeschaft. Das Klavier, in der schräg gegenüberliegenden Ecke, tönte nur noch leise und abgebrochen, gespielt mit einer Hand von dem mannheimischen Kranken, an dessen Seite die Lehrerin saß und in einem Notenbuch blätterte, das sie auf den Knien hielt. Als das Gespräch zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat verstummte, hörte der Pianist vollends zu spielen auf und legte auch die Hand, mit der er die Tasten leicht gerührt hatte, in den Schoß, während Fräulein Engelhart fortfuhr, in ihre Noten zu blicken. Die vier von der Fastnachtsgeselligkeit übriggebliebenen Personen saßen unbeweglich. Die Stille dauerte mehrere Minuten. Langsam neigten sich unter ihrem Druck die Köpfe des Paares am Pianino tiefer und tiefer, der des Mannheimers gegen die Klaviatur hinab, der Fräulein Engelharts auf das Notenheft. Endlich, beide gleichzeitig, wie nach geheimer Verständigung, standen sie vorsichtig auf, und leise, auf den Zehen, indem sie es künstlich vermieden, sich nach der anderen noch belebten Zimmerecke umzusehen, die Köpfe eingezogen und die Arme steif am Leibe, verschwanden der Mannheimer und die Lehrerin miteinander durch das Schreib- und Lesezimmer.

Einer nach dem anderen geht“, sagte Frau Chauchat. „Das waren die letzten; es ist spät geworden. Nun ja, aus ist das Fest, vorüber ist er, der Karneval!“

Und sie hob die Arme, um mit beiden Händen die Papiermütze von ihrem rötlichen Haar zu nehmen, dessen Zopf als Kranz um den Kopf geschlungen war. „Sie wissen, was danach kommt, mein Herr.“

Aber Hans Castorp verneinte mit geschlossenen Augen, ohne im übrigen seine Stellung zu verändern. Er: antwortete.

Nie, Clawdia. Nie werde ich Sie zu dir sagen,nie im Leben noch im Tode,

wenn man so sagen kann, – man sollte es können. Diese Form, seine Nächsten anzureden, diese Förmlichkeit, die im kultivierten Abendlande, in der humanitären Zivilisation so gepflegt wird, dünkt mich steif bürgerlich und pedantisch. Was hat hier eigentlich Form zu bedeuten? Form, Pedanterie in Reinkultur! Alles, was ihr beiden, du und dein Landsmann und Leidensgenosse, was ihr im Hinblick auf die Moral da festgestellt habt – meinst du wirklich, mich überrascht das? Für welch großen Einfaltspinsel hältst du mich wohl? Sag mal, was denkst du eigentlich so über mich?“

Das ist ein anderes Problem, das nicht weiter viel nachzudenken gibt. Du bist ein anständiger kleiner Bürgersmann, aus guter Familie, von reizenden Umgangsformen, ein sehr gelehriger Zögling seiner Herren Erzieher, der bald ins Flachland heimkehren wird, um dort unten restlos zu vergessen, das er je hier oben im Traume geredet hat, und der dagegen dort unten mit aller Tatkraft ans Werk gehen wird, um sein Vaterland groß und mächtig machen zu helfen. Da hast du deun Innenportrait, ganz ohne Röntgenapparat gemacht, Du findest es doch haargenau dir ähnlich, will ich hoffen?“

Nur ein paar Einzelheiten fehlen noch darin, die Behrens ans Licht gezogen hat.“

Ah, die Herren Mediziner, die ziehen immer noch etwas mehr ans Licht, die kennen sich sowieso darin aus…“

Du kannst reden wie Signor Settembrini. Und mein Fieber? Wo kommt das her?“

Geh doch! Das ist nur ein kleiner Anfall ohne Folgen, der bald wieder vorüber sein wird.“

Nein, Claudis,du weißt sehr wohl, dass, was du sagst, kann nicht wahr sein,und du sprichst das, dessen bin ich ganz sicher, ohne innere Überzeugung aus. Das Fieber meines Leibes und das Klopfen meines bis zur Erschöpfung erregten Herzens und das Zittern meiner Glieder, das ist alles andere als nur ein kleiner Anfall, denn es ist nichts anderes“ – und sein bleiches Gesicht mit den zuckenden Lippen beugte sich tiefer zu dem ihren – „nichts anderes als meine Liebe zu dir, ja, die Liebe, die mich befallen hat von dem Augenblicke an, als meine Augen dich erblickten, oder vielmehr, als ich klar erkannte, als ich dich wiedererkannte, – und sie ist es, die mich hierhergeführt hat…“

Welche Torheit von dir!“

Oh, die Liebe ist nichts, wenn sie nicht Torheit ist, ein wahnsinniges verbotenes Tun und Treiben, ein Abenteuern im Bösen. Alles andere an ihr ist nur angenehme Albernheit, ein nichtssagender Zeitvertreib, der gerade gut dazu ist, harmlose Schäferliedchen auf den heimischen Fluren vor sich hin zu reimen. Aber dies klare Gefühl, mit dem ich dich und meine Liebe zu dir in mir wiedererkannt habe, – ja, wahrhaftig, ich habe dich schon seit jeher gekannt, dich und deine wundervoll schräg geschnittenen Augen und deinen Mund und deine Stimme, mit der du jetzt zu mir sprichst, – damals, als ich noch ein kleiner Gymnasiast war, da wollte ich schon mal deinen Bleistift von dir haben, um endlich deine Bekanntschaft in der Welt zu machen, weil ich dich wahnsinnig liebte, und von dieser alten, langen Liebe zu dir sind mir sicherlich die Spuren geblieben, die Behrens in meinem Körper ans Licht geholt hat ubnd die darauf hindeuten, dass ich auch damals krank war…“

Seine Zähne schlugen aufeinander. Er hatte den einen Fuß unter seinem knisternden Stuhl hervorgezogen, während er phantasierte, und wie er ihn vorschob, diesen Fuß, berührte er mit dem anderen Knie schon den Boden,so dass er denn auch neben ihr kniete, gebeugten Kopfes und am ganzen Körper zitternd.

Ich liebe dich“, lallte er, „ich habe dich schon seit je geliebt, denn du bist das Du meines Lebens, mein Traum, mein Schicksal, mein ganzes Verlangen, meine ewige Sehnsucht…“

Steh auf! Steh auf!“ sagte sie. „Wenn deine Herren Erzieher dich jetzt so sähen…“

Aber erschüttelte verzweifelt den Kopf, das Gesicht über dem Teppich, und antwortete:

Sie wären mir Luft, Luft sind sie mir alle, alle diese Schönredner und Versemacher vom Schlage eines Carducci, samt der ganzen republikanischen Redekunst und samt dem menschlichen Fortschritt in alle Zeiten, denn ich liebe dich!“

Sie streichelte ihm leicht mit der Hand das kurzgeschorene Haar am Hinterkopf.

Petit bourgeois!“ sagte sie. „Mein hübscher bourgeois mit dem kleinen feuchten Fleck. Ist das wahr, liebst du mich so sehr?“

Und begeistert von ihrer Berührung, nun auf beiden Knien, den Kopf im Nacken und mit geschlossenen Augen, fuhr er zu sprechen fort:

Oh, die Liebe, weißt du … Leib, Liebe, Tod, diese drei sind nur eines. Denn der Leib, das ist die Krankheit und die Wollust, und er, er gebiert aus sich den Tod, ha, sie sind fleischlich, alle beide, die Liebe und der Tod, und daraus erwächst ihr Schrecken und ihre große Magie! Aber der Tod, begreifst du, ist von hier gesehen etwas Anrüchiges, etwas Schimpfliches, etwas Ekles, das den Menschen vor Scham erröten läßt; von dorther gesehen aber ist er, der Tod, etwas Hoheitsvolles, sehr Feierliches, sehr Majestätisches, – etwas viel Erhabeneres als das lachende Leben, das irdische Güter anhäufende und seinen Bauch füllende Leben, – etwas viel Ehrwürdigeres als all der menschliche Fortschritt, der sich durch die Jahrhunderte schwatzt und schwindelt, – weil er, der allgewaltige Tod, alles in sich vereint: die Geschichte und die menschliche Größe, die Frömmigkeit und die Ewigkeit, weil er das Heilige ist, das so mächtig auf uns wirkt, dass wir den Hut vor ihm abnehmen und auf den Zehenspitzen dahinschreiten …Gleicherweise nun liegt auch im Fleisch und in der fleischlichen Liebe etwas Schamloses und Peinliches, und der Leib errötet und erblasst an seiner Oberfläche aus Schrecken und Scham über sich selber. Aber auch er ist ein verehrungswürdiges, prachtvolles Werk und wunderbares Gebilde des organischen Lebens, ein heiliges Wunder der Form und der Schönheit, und die Liebe zu ihm, zu dem Menschenleibe, ist gleicherweise ein höchst humanitäres Anliegen und eine erziehlichere Macht als alle Pädagogik der Welt!…O berauschende Schönheit des lebendigen Körpers, der nicht künstlich aus Ölfarben noch aus Stein gemacht, sonder aus ewig sich wandelnder, ewig belebter Materie geschaffen und durchpulst ist vom fiebrig lodernden Geheimnis des Lebens und der Verwesung! Beschaue dir das wunderbare Gleichmaß des menschlichen Körperbaus, die Symnetrie der Schultern und der Hüften und des blühenden, schwellenden Brüstepaars und der paarig angeortneten Rippen und den Nabel inmitten des wohlgerundeten Leibes und das dunkle Geschlecht zwischen den Schenkeln! Beschaue dir, wie die Schulterblätter unter der seidigen Haut des Rückens hin und her spielen und wie das Rückgrat sanft und allmählich in die gedoppelte blühende Wölbung der üppigen Gesäßbacken ausschwingt und wie das großartige Astwerk der Adern und Nerven über die Achseln hin bis in die äußersten Fingerspitzen sich verzweigt und wie die Struktur der beiden Arme genau der Gliederung des Beinpaares entspricht. O diese sanftgeschwungenen Flächen des Ellbogens und der Kniekehle, unter deren Haut die Gelenke spielen, o diese Fülle organischer Feinheiten unter ihre Fleischpolstern! Welch unaufhörliches, nie enden wollendes Fest, all diese köstlichen Stellen des Menschenleibes zu liebkosen! Ein Fest, nach dessen Freuden und Genüssen der Tod keinen Stachel mehr hat! Oh, Göttliche, lass mich den Duft atmen,den die Haut deiner Kniescheibe ausströmt, unter der eine sinnreiche Kapsel ihr geschmeidiges Öl absondert! Lass mich hingegeben mit meinem Munde die Arteria Femoralis berühren, die am Ursprung deines Schenkels pulst und die sich abwärts in die beiden Arterien des Schienbeins ergießt! Lass mich den Hauch deiner Poren trinken und dein Flaumhaar betasten, du menschliches Gebilde aus Wasser und Eiweiß, das geschaffen ist, um wieder Staub zu werden, und lass mich – meine Lippen an deinen Lippen – vergehen!“

Er öffnete die Augen nicht, nachdem er gesprochen; er blieb, wie er war, den Kopf im Nacken, die Hände mit dem Silberstiftchen von sich gestreckt, auf seinen Knien bebend und schwankend. Sie sagte:

Du bist wirklich ein Kurmacher, der auf tiefe Weise, nach deutscher Art, um Gunst zu werben versteht.“

Und sie setzte ihm die Papiermütze auf.

Leben Sie wohl, mein Prinz Karneval! Sie werden heute Abend eine schöne Fieberkurve haben, das kann ich Ihnen schon jetzt voraussagen.“

Damit glitt sie vom Stuhl, glitt über den Teppich zur Tür, in deren Rahmen sie zögerte, halb rückwärts gewandt, einen ihrer nackten Arme erhoben, die Hand an der Türangel. Über die Schulter sagte sie leise:

Vergessen Sie nicht, mir meinen Bleistift wiederzugeben.“

Und trat hinaus.

 

Übersetzung der französischen Textstellen: Hans Bartuschek

Zum Thema hier im Blue Blog Xenias Artikel: Thomas Mann – Sie waren nicht nach seinen Wünschen

1 Kommentar zu „Der Zauberberg- Bleistift-Szene – Übersetzung der französischen Textstellen – Teil 2

  1. Und da ist er wieder, der treffsichere Spötter:
    “Oh, Göttliche, lass mich den Duft atmen, den die Haut deiner Kniescheibe ausströmt, unter der eine sinnreiche Kapsel ihr geschmeidiges Öl absondert!”

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