St. Nikolaus in Not

Nacherzählung einer Geschichte aus einem Weihnachtsbuch der 1960er Jahre.

Das kleine Dorf lag tief verschneit im Tal. Alles war friedlich und still. Der Mond schien und mit seinen Strahlen erleuchtete er den Schnee, sodass er wie Silber glänzte. Die Menschen schliefen alle, außen vier Leuten, die mit etwas Wichtigem beschäftigt waren.
Da war der Dichter Remoldus. Er saß bei Kerzenschein, rauchte eine Pfeife und schrieb ein Gedicht. Auch der Nachtwächter Dries schlief nicht. Er durfte auch nicht schlafen, denn er musste jede viertel Stunde durch die Tür des Turms nach draußen in die kalte Nacht schlüpfen, um eilig den Menschen die Zeit zu blasen. Er blies schnell drei Töne in alle vier Himmelsrichtungen und verschwand wieder in seiner warmen Stube hoch oben im Turm.

Trienchen Mutzer aus dem Süßwarenladen, war die dritte, die nicht schlief. Sie konnte einfach nicht einschlafen, weil sie so traurig war. Im Schaufenster ihres Ladens stand ein großes Schokoladenschiff. Es hieß Kongo und war das größte und schönste Schokoladenschiff der Welt. Es war lustig mit Silberpapier beklebt, verziert war es mit rosa Zuckerrosetten und mit Leiterchen aus weißem Zucker. Aus den Schornsteinen kam Rauch aus weißer Zuckerwatte. Alle Leute aus der kleinen Stadt waren gekommen, um das schöne Schiff anzusehen, aber keiner hatte es gekauft. Zwanzig Mark sollte es kosten und so viel gab hier keiner für Süßigkeiten aus. Alles andere war ausverkauft, die ganzen Schokoladenplätzchen, Bonbons, Waffeln, alles Zuckerzeug und auch die Marzipankartoffeln, nur die Kongo stand noch da und rauchte aus den Kaminen ihre weiße Watte. Und heute war Nikolausabend und wenn jetzt kein Wunder geschah, lag ihr ganzer Verdienst im Wasser. Trienchens Herz war in einen Dornbusch gefallen.
Und es gab noch ein viertes Wesen in dem verschneiten Städtchen, dass nicht schlief. Es war die kleine Cäcilie. Sie hatte ein seidig blondes Lockenköpfchen und war sehr arm. Ihr Nachthemdchen hatte nur noch einen Ärmel und war am Saum ganz ausgefranst. Cäcilie saß mit dem Kopfkissen auf ihren Armen unter dem Kamin und wartete darauf, dass der Nikolaus ihr das Schokoladenschiff aus Trienchen Mutzers Laden herunterwerfen sollte. Sie wusste, dass er es ihr bringen würde. Sie hatte jede Nacht davon geträumt, wie es sacht und ohne zu zerbrechen auf ihrem Kissen landete.

Zur selben Zeit aber, öffnete sich der Mond wie ein silberner Ofen und ließ für einen Augenblick das echte Licht aus dem wirklichen Himmel auf die Erde fallen. Das geschah, um St. Nikolaus auf seinem weißen, schwer beladenen Eselchen und den schwarzen Knecht Ruprecht durchzulassen. Aber wie kamen sie nun auf die Erde? Ganz einfach. Das Eselchen stellte sich auf einen Mondstrahl, stemmte die Beine steif und glitschte nur so herunter, wie auf einer Eisbahn. Und der schlaue Knecht Ruprecht fasste den Schwanz des Eselchens und ließ sich behaglich mitziehen. So kamen sie ins Dorf, mitten auf den beschneiten Marktplatz. In den Körben, die zu beiden Seiten des Eselchens hingen, dufteten die bunten Leckereien aus der Himmelsbäckerei. Knecht Ruprecht machte sich gleich an die Arbeit, die leckeren Sachen zu verteilen. Je nachdem, ob ein Kind artig war oder nicht, gab St. Nikolaus ihm Leckereien oder eine Rute, welche Knecht Ruprecht, wie eine Katze kletternd, zum Kamin brachte und sie sacht durch das Kaminloch fallen ließ, sodass sie genau auf einen Teller, der dort aufgestellt war, fielen. Nie ging dabei etwas zu Bruch oder wurde auch nur beschädigt.
Nur die kleine Cäcilie saß immer noch vor dem Kamin und wartete, als sie draußen Stimmen hörte. „Da wären wir wieder einmal fertig, bis zum nächsten Jahr“, sagte Knecht Ruprecht, als er die leeren Körbe sah.
„Was?“, fragte St. Nikolaus beunruhigt. „Ist nichts mehr drin? Und die kleine Cäcilie, die brave kleine Cäcelie?“
Da sah St. Nikolaus, dass sie vor Cäciliens Haus standen und legte mahnend den Finger auf den Mund.
Doch das Kind hatte die warme Stimme gehört, machte große Augen unter dem goldenen Lockenkopf, glitt ans Fenster, schob das Gardinchen weg und sah St. Nikolaus, den wirklichen St. Nikolaus.
Die kleine Cäcilie stand mit offenem Mund staunend da, während der heilige St. Nikolaus mit leiser Stimme weitersprach.
„Ist denn gar nichts mehr in den Körben, lieber Ruprecht?“
„Nein, heiliger Herr. So wenig wie in meinem Geldbeutel.“
St. Nikolaus strich kummervoll über seinen schneeweißen Lockenbart.
„Ach“, sagte der schwarze Knecht. „Da ist nun doch nichts mehr zu machen, Heiliger Herr. Schreibt der kleinen Cäcilie, dass sie im nächsten Jahr doppelt und dreifach so viel bekommen soll.“
„Niemals, Ruprecht! Ich soll diese kleine Cäcilie, dass bravste Kind der Welt leer ausgehen lassen! Nie, Ruprecht, nie!“
„Aber Heiliger Herr, nun hört mal zu! Wir haben keine Zeit mehr, um noch einmal zum Himmel zurückzukehren. Und außerdem, der Backofen ist kalt und der Zucker ist auch zu Ende. Und hier in der Stadt schläft alles und es ist Euch sowohl wie mir verboten, Menschen zu wecken und zudem sind auch alle Läden ausverkauft.“
St. Nikolaus strich nachdenklich über seine faltige Stirn.
Ich brauche euch nicht zu erzählen, wie Cäcilie langsam immer trauriger wurde. Sie sollte das schöne Schiff nicht bekommen! Doch auf einmal hatte sie eine Idee. Sie machte die Tür auf und stand in ihrem verschlissenen Hemdchen auf der Schwelle. St. Nikolaus und Knecht Ruprecht erschraken sehr. Doch Cäcelie schlug ehrerbietig ein Kreuz, stapfte mit ihren nackten Füßen in den Schnee und ging zum heiligen Kinderfreund.
„Guten Abend, lieber St. Nikolaus“, stammelte sie. „Alles ist noch nicht ausverkauft. Bei Trienchen Mutzer steht noch ein großes Schokoladenschiff. Als sie den Laden zumachte, stand es noch da, ich hab´s gesehen.“
Von seinem Schreck sich erholend, rief St. Nikolaus erfreut: „Siehst du wohl, alles ist noch nicht ausverkauft! Auf zu Trienchen Mutzer!“
„Aber ach“, und seine Stimme zitterte verzweifelt. „Wir dürfen niemanden wecken!“
„Ich auch nicht, St. Nikolaus?“, fragte Cäcilie.
„Doch, du darfst!“, rief der Heilige. „Wir sind gerettet.“
Und sie gingen mitten auf der Straße. Die kleine Cäcilie mit nackten Füßen voran. Ihr folgten St. Nikolaus und Knecht Ruprecht auf dem weißen Eselchen. Als sie am Haus des Dichters Remoldus vorbeikamen, sahen sie ihn in seinem Zimmer auf und ab gehen. Er las dabei in seinem Büchlein und rauchte eine Pfeiffe. Endlich kamen sie zu Trienchen Mutzers Haus.
„Weck sie rasch auf“, sagte St. Nikolaus.
Das Mädchen legte sich mit dem Rücken an die Tür und klopfte mit der Ferse gegen das Holz. Aber das klang sehr leise.
„Mit den Fäusten“, sagte Knecht Ruprecht.
Doch die Fäustchen waren noch leiser als die Fersen. Es hatte keinen Sinn. Cäcilie schaffte es nicht, Trienchen Mutzer zu wecken.
„Den Mann mit dem Büchlein!“, rief Knecht Ruprecht. „Den darf ich rufen, der schläft nicht!“
„Der Dichter, der Dichter!“, lachte St. Nikolaus.
Und nun gingen sie alle drei schnell zum Dichter Remoldus. Kurzer Hand machte Knecht Ruprecht kleine Schneebälle, die er ans Fenster warf. Das Fenster ging auf und der lange Dichter wurde im Mondschein sichtbar.
„Du sollst Trienchen Mutzer für uns wecken!“, rief St. Nikolaus und erzählte seine Not.
„Ja, bist du denn der wirkliche St. Nikolaus?“, fragte Remoldus.
„Der bin ich“, antwortete der heilige Mann.
Darauf kam der Dichter erfreut herunter und stand ihnen zu Diensten. Als sie zu Trienchen Mutzers Haus kamen, stampfte der Dichter so laut gegen die Tür, dass Trienchen sofort aus dem Bett stürmte und erschrocken das Fenster öffnete.
„Wir kommen wegen des großen Schokoladenschiffs“, sagte St. Nikolaus.
Weiter konnte er nichts erklären, denn sie war schon weg und öffnete einen Augenblick später im Nachthemd und mit nackten Füßen die Ladentür.
„Treten Sie ein, Herr Bischof“, sagte sie stotternd. „Hier ist das Schiff. Es kostet 25 Mark.“
St. Nikolaus sah sie erschrocken an. Geld, daran hatte er nicht gedacht. Er hatte kein Geld. Das hat man im Himmel nun einmal nicht nötig.
„Gib es umsonst“, bat er. „Es ist Gott zu Liebe.“
Trienchen Mutzer rührte sich nicht und schaute den Nikolaus finster an.
„Tu es dem Himmel zu Liebe!“, sagte Knecht Ruprecht. „Nächstes Jahr will ich auch deinen ganzen Laden leerkaufen.“
Aber Trienchen rührte sich nicht, denn sie glaubte, Diebe ständen vor ihr.
„Hilfe, Hilfe!“, schrie sie auf einmal. „Schert euch raus! Heiliger Antonius und Heiliger St. Nikolaus, steht mir bei!“
„Aber ich bin doch St. Nikolaus“, sagte der Heilige.
„So siehst du aus!“, schimpfte Trienchen Mutzer. „Du kannst ja nicht einmal das Schiff bezahlen.“
Da verließen der Nikolaus und die anderen enttäuscht den Laden.
Doch als sie gerade draußen waren, hörten sie den Nachtwächter die Zeit ausrufen.
„Noch einer, der nicht schläft!“ rief St. Nikolaus erfreut und Knecht Ruprecht schob schnell den Fuß zwischen die Tür, die Trienchen wütend zuschlagen wollte.
„Haltet mir die Frau wach!“, rief der schwarze Knecht. „Ich komme sofort zurück!“
Und während die anderen wieder in den Laden gingen, sprang er auf das Eselchen, sauste durch die Straßen, hielt vor dem Turm des Nachtwächter Dries und kletterte schnell zu ihm hinauf. Zuerst bekam Dries einen ordentlichen Schrecken, aber Knecht Ruprecht erklärte ihm schnell, worum es ging.
So ließ Dries sich dazu überreden mitzukommen und sie rasten zu zweit auf dem Esel zu Trienchen Mutzers Laden zurück. Sie waren kaum eingetreten, als St. Nikolaus den Nachtwächter anflehte, das Schiff zu bezahlen.
„Dann soll dir alles Glück der Welt zukommen“, versprach er und schaute ihn bittend an.
Dries war gerührt und sprach das hartherzige Trienchen an.
„Ich glaube nicht, dass er lügt“, sagte er zu ihr. „So wie er sieht St. Nikolaus doch in den Bilderbüchern unserer Kinder aus. Ich glaube, er ist es wirklich. Gib ihm doch das Schiff. Morgen werde ich es bezahlen.“
Da Trienchen den Nachtwächter gut kannte, gab sie schließlich St. Nikolaus das Schiff.
„Jetzt geh´nur schnell nach Hause und leg dich schlafen“, sagte St. Nikolaus zu Cäcilie. „Wir bringen gleich das Schiff.“

Das Kind ging nach Hause, aber es schlief nicht. Es saß am Kamin mit dem Kissen auf den Ärmchen und wartete auf das Niedersinken der Kongo.
Der Mond sah gerade in das armselige kalte Zimmer. Aber ach, was sah Cäcilie da auf einmal? Dort, auf einem glitzernden Mondstrahl kletterte das Eselchen in die Höhe mit St. Nikolaus auf dem Rücken. Und Knecht Ruprecht hielt sich wieder am Schwanz fest und ließ sich mitziehen. Der Mond öffnete sich und ein sanftes großes Licht fiel in funkelnden Regenbogenfarben über die beschneite Welt. St. Nikolaus sah noch einmal zur Erde hinunter, trat hinein und dann war da wieder das normale Mondlicht. Die kleine Cäcilie wollte weinen. Knecht Ruprecht und St. Nikolaus hatten das Schokoladenschiff nicht gebracht. Es lag nicht auf dem Kissen. Aber siehe, was für ein Glück! Die Kongo stand ja da, in der kalten Asche, ohne Delle, ohne Bruch, strahlend von Silber und rauchte für mindestens 20 Pfennig weiße Zuckerwatte aus beiden Schornsteinen! Wie war das nur möglich? Wie konnte das so in aller Stille geschehen sein? Ja, das weiß niemand. Das ist das Geheimnis von Knecht Ruprecht, und das verrät er natürlich keinem.

© Xenia Marita Riebe

4 Kommentare zu „St. Nikolaus in Not

  1. Altmodische Geschichte?… Ja,vielleicht,aber ich liebe sie schon seit Grundschulzeiten.Und jetzt haben Sie sie so nett nacherzählt!Dankeschön!
    Habe sie meinen Deutschschülern vorgelesen.Das geht doch in Ordnung,oder?
    Herzliche Grüße aus Yokohama!
    Annerose Iwasaki

    • Liebe Frau Iwasaki,
      ich freue mich natürlich sehr darüber, dass Sie Ihren Schülern in Yokohama meine Nacherzählung vorgelesen haben.
      Alles Gute aus Deutschland sendet Xenia Marita Riebe
      P.S. Mein Mann Bernd (auch Lehrer) lässt Ihnen ausrichten, dass Sie sich gerne an ihn wenden können, falls Sie Materialien für Ihren Deutschunterricht benötigen.

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