Pion
Das hier ist Pion. Er ist ein kleiner Vogel und sitzt in einem Nest im Apfelbaum eines alten verwilderten Gartens. Noch ist er zu klein, um das Nest zu verlassen.
Pion teilt sich das Nest mit zwei Brüdern. Immer wenn die Vogeleltern mit einem Wurm oder einer Mücke im Schnabel zu Nest geflogen kommen, rufen Pions Brüder laut, recken ihre Hälse und öffnen weit die Schnäbel. Pion aber sitzt verträumt in einer Ecke des Nests und wartet geduldig darauf, dass ihm Vater oder Mutter etwas Fressbares in den Schnabel stecken. Nie drängt er sich nach vorn, wie seine Brüder es machen. Zum Glück sind die Vogeleltern aufmerksam und vergessen Pion nicht. Doch sie haben viel zu tun, um ihre Brut satt zu bekommen. Unentwegt fliegen sie im Garten herum, um für ihre Nestlinge Futter zu suchen.
Die Zeit vergeht und Pions Brüder werden groß und kräftig. Pion dagegen ist noch recht zart und klein und er träumt immer noch gerne in den Tag hinein. Seine beiden Brüder warten schon ungeduldig auf den Tag, an dem sie das Nest endlich verlassen können. Pion dagegen fürchtet sich davor und wenn er über den Nestrand in die Tiefe schaut, wird ihm schwindelig. Wie hoch der Baum ist und wie tief unter ihm der Gartenboden, auf dem seine Eltern nach Würmern suchen. Da schaut Pion schon lieber den bunten Schmetterlingen zu, die lustig von einer Apfelblüte zur anderen flattern. Er genießt die warmen Strahlen der Frühlingssonne auf seinem Gefieder und freut sich am Abend am Funkeln der Sterne. Manchmal schließt er einfach die Augen und träumt von einem glücklichen Leben hier im alten Garten.
Eines Tages ist es soweit. Pion und seine Brüder sollen das Fliegen erlernen, damit sie das Nest verlassen können. Pions Brüder können es kaum erwarten. Sie hocken auf dem Nestrand und sind bereit, sich in die Tiefe zu stürzen. Noch flattern sie unsicher mit den Flügeln, doch dann fliegt einer nach dem anderen los. Zuerst sind sie noch ungeschickt. Aber sie lernen schnell und fliegen schon bald fröhlich durch den Garten, landen auf den alten Rhabarberstauden oder in den wuchernden Brombeerbüschen. Die Katze ist an diesem Tag zum Glück nicht unterwegs.
Im Vorbeifliegen rufen sie Pion zu: „Komm Pion, du Angsthase! Fliegen macht Spaß!“
Pion beugt sich über den Nestrand, um ihnen nachzusehen. Da verliert er plötzlich den Halt und fällt kopfüber aus dem Nest. Voller Angst schlägt er wild mit seinen Flügeln, trotzdem fällt er beinahe in das tiefe Gras. Im letzten Moment kommt ihm ein leichter Wind zur Hilfe. Er greift Pion unter die Flügel und trägt ihn hoch und immer höher. Nach dem ersten Schreck ist Pion begeistert. Welche Angst hat er immer vorm Fliegen gehabt! Nie hätte er sich erträumt, dass es so schön sein kann. Er lässt sich glücklich vom Wind davontreiben, spürt die Weite des Himmels und die Freiheit um sich herum. Voller Freude fliegt er immer weiter, bis er zu einem großen stillen See kommt. Dort dümpelt am Ufer ein kleines Boot, auf das sich Pion müde niederlässt.
Pion schaut über das spiegelnde Wasser des Sees und stellt sich vor, wie schön es sein muss, um die ganze Welt zu fliegen. Dabei bemerkt er nicht, dass der Himmel immer dunkler wird. Plötzlich teilt ein Blitz die Wolken, Donner hallt gegen die Berge, die den See umgeben und wird von dort grollend zurückgeworfen. Dicke schwere Regentropfen fallen vom Himmel und machen Pions Federn nass. Zitternd vor Angst und Kälte plustert er sich auf, steckt sein Köpfchen in die Federn und versucht, die Welt um sich herum zu vergessen.
Doch dann reißt ihn eine fremde Stimme aus seinen Träumen.
„Hab keine Angst, Kleiner!“
Pion sieht sich suchend um. Woher kommt die Stimme? Wer hat da gesprochen?
„Hier unten bin ich“, sagt ein dicker Frosch, der seinen Kopf aus dem Wasser streckt.
„Komm hinunter zu mir ins Wasser!“, fordert er Pion auf.
„Ins Wasser, wie kann ich das? Ich bin doch ein Vogel.“
Pion schaut den Frosch verständnislos an.
„Komm, und du wirst sehen“, lockt der Frosch und sieht Pion dabei mit seinen großen Augen freundlich an.
Pion überlegt. Kann ein Vogel unter Wasser leben, fragt er sich. Er weiß es nicht. Davon haben seine Eltern nie gesprochen. So schlimm kann es nicht sein, denkt er und wagt den Sprung ins kalte Wasser. Kopfüber stürzt er sich hinein und taucht mit dem Frosch zusammen davon.
Pion staunt. Was er nun sieht, das hätte er sich nie erträumen können. Wie schön es hier unter Wasser ist, denkt er.
Wasserpflanzen bewegen sich auf dem Grund wie Gras im Wind, alles schimmert grünlich im schräg einfallenden Licht und viele bunte Fische schauen neugierig zu Pion hinüber.
„Gefällt es dir in meiner Welt?“, fragt der Frosch und macht eine stolze Bewegung mit der Hand.
„Seit Jahren sitze ich hier bei dem alten Boot und warte auf einen Vogel, der den Mut hat, zu mir herunterzukommen. Schwimme mir nach, du hast es gewagt und du sollst belohnt werden.“
Pion folgt dem Frosch durch Wälder von Wasserpflanzen. Fischschwärme sausen auseinander und lassen das seltsame Paar vorbei. Als sie in die Nähe des Ufers kommen, schwimmen sie durch dichtes Schilf. Das felsige Ufer kommt schnell näher und der Frosch hält vor einem runden dunklen Loch in einer Felswand an.
„Schwimme hinein, mein kleiner Freund, und du wirst dein Glück finden!“, ruft er Pion zu und verschwindet blitzschnell im Schilf.
Nun schwimmt der kleine Vogel allein vor dem bedrohlich wirkenden Loch hin und her. Er hat große Angst hineinzuschwimmen. Doch die Worte des Froschs klangen auch sehr verlockend. „Du wirst dein Glück finden“, hatte er gesagt. Was soll das nur bedeuten, fragt Pion sich. Was hatte der Frosch damit gemeint? Schließlich wird Pions Neugierde stärker als seine Angst. Er wagt es und schwimmt hinein in die schwarze Dunkelheit.
Sein Weg führt durch einen engen dunklen Tunnel. Schließlich erreicht er eine Felshöhle. Das helle Licht, das die Höhle von hoch oben durchflutet, blendet ihn. Doch als sich seine Augen an das Licht gewöhnt haben, schaut er sich staunend um. An den Felswänden hängen überall bunte Federn, die so schön seidig glänzen, dass sich Pion nicht satt daran sehen kann.
Er steht wie verzaubert in der Mitte der Höhle, als er plötzlich ein leises Raunen hört, das langsam immer lauter wird. Ein warmer Wind kommt auf, der kräftig durch die Felshöhle streicht. Dabei lösen sich die Federn von den Wänden und kreisen in einem schnell drehenden Wirbel um Pion herum. Viele bunte Federn bleiben an ihm hängen und als der Wind sich legt, hat er ein neues Federkleid.
Der Boden der Höhle ist jetzt übersät mit Federn und als Pion vorsichtig darüber geht, erinnert er sich an das weiche Moos im Nest seiner Eltern. Die Felswände sind jetzt kahl und blank. Wie dunkle Spiegel umgeben sie Pion und wie er sich auch dreht und wendet, schaut ihm aus den Spiegeln ein wunderschöner bunter Vogel entgegen. Erst nach einer Weile begreift Pion, dass er sein eigens Spiegelbild sieht. Glücklich betrachtet er sich von allen Seiten. Wie schön er jetzt ist. Seinen Kopf ziert eine Haube aus langen seidigen Federn, seine Flügel sind größer geworden und als er sie spreizt, schillern sie in allen Farben des Regenbogens. Und sein Schwanz ist lang wie der eines Paradiesvogels.
Wie werden die Eltern staunen, wenn sie mich so wiedersehen, denkt Pion glücklich.
Als Pion an seine Eltern und seine Brüder denkt, möchte er zurück nach Hause. Er flattert mit den Flügeln und macht einen Hüpfer nach dem anderen. Doch die neuen Federn sind so schwer und Pion ist im Fliegen so ungeübt, dass er sich nicht hochfliegen kann. Sehnsüchtig schaut er hinauf zum Höhlenausgang, aus dem ihm der blaue Himmel entgegenlacht. Verzweifelt versucht er es weiter. Er dreht seine Flügel in alle Richtungen und flattert dabei heftig mit den Federn. Doch nichts geschieht. Als Pion gerade traurig aufgeben will, kommt ihm erneut der Wind zur Hilfe. Er bläht Pions Flügel wie Segel und trägt ihn sanft hinauf zum Höhlenausgang. Pion schwingt sich erleichtert hinaus und gleitet, einem Adler gleich, durch die Luft. Wie schön ist es, die Sonne wieder auf den Flügeln zu spüren.
Doch das Fliegen mit den neuen Federn strengt Pion an. Eine hohe Birke lädt ihn zu einer Rast ein. Kaum hat er sich auf einem Ast niedergelassen, als er auch schon den lockenden Gesang eines Vogelweibchens hört. Pion sieht sich um und entdeckt in einem Haus in der Nähe ein offenes Fenster. Neugierig fliegt er auf das Fensterbrett und betrachtet staunend das goldglänzende Weibchen, das in einem Käfig eingesperrt ist. Es singt so lieblich und ist so wunderschön!
Pion hüpft immer näher an den Käfig heran, denn er möchte sich dem Weibchen zeigen. Auch ich bin schön mit meinen neuen Federn, denkt er.
Da betritt ein Mann das Zimmer und kommt vorsichtig auf Pion zu. Er schließt behutsam das Fenster hinter dem bunten Vogel und öffnet einladend die Käfigtür. Pion ist vom lockenden Gesang des Weibchens so verzaubert, dass er die Falle nicht bemerkt. Freudig hüpft er in den Käfig. Da schlägt der Mann das Türchen zu. Pion ist gefangen.
Der Schreck, der Pion durch die Glieder fährt, weckt ihn aus seinem Traum. Verwirrt schaut er sich um. Wo bin ich nur, fragt er sich. Ach ja, ich sitze auf dem Rand des Bootes. Das Gewitter ist vorbei und der Himmel wieder klar. Nur in Pions Kopf wirbeln die Gedanken durcheinander. Er schaut an sich hinunter. Wieso bin ich nicht mehr bunt und prächtig, fragt er sich. Und wo ist das schöne Vogelweibchen? Aber je länger er nachdenkt, desto glücklicher wird er. Ich habe alles nur geträumt, denkt er. Was für ein Glück, dass ich diese einfachen braunen Federn habe. Mich will so schnell niemand in einen Käfig sperren.
Voller Freude fliegt Pion zu seinem Garten zurück und landet auf dem großen verwitterten Holztor. Es ist schon beinahe dunkel und die Mondsichel steht hoch am Himmel. Der alte Apfelbaum steht wie immer im dichten Gras. Seine Brüder sind schon ins Nest zurückgekehrt und haben ihre Köpfe in die Federn gesteckt. Im Garten ist es ganz still. Nur eine Grille zirpt. Pion sitzt eine Weile still auf dem Tor und erfreut sich am Frieden im Garten. Dann fliegt er hinauf ins Nest und wird von seinen Eltern freudig begrüßt. Aufgeregt erzählt Pion von seinem abenteuerlichen Flug zum See und vom Gewitter, das ihn auf dem Boot überrascht hat. Nur über seinen Traum spricht er nicht. Der Frosch und das schöne Vogelweibchen bleiben sein Geheimnis.
Text und Bilder: © Xenia Marita Riebe
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