Kleist – Marionettentheater – geistvolle Gedankenspiele
Eine Interpretation des Essays „Über das Marionettentheater“ im Sinne einer Bedeutungserklärung ist eigentlich nicht nötig, erklärt sich das Stück doch von selbst. So sind auch die viele Interpretationen entweder nicht mehr als eine vertiefende Inhaltsbeschreibung oder aber es werden philosophische, ethische oder religiöse Betrachtungen in die Deutung einbezogen, die wiederum nur das ergänzen oder im besten Fall vertiefen, was im Werk bereits dargelegt ist. Was also gibt uns dieses Gespräch über Anmut und Grazie?
Der Text „Über das Marionettentheater“ erschien erstmals 1810 in den vom Dichter selbst herausgegebenen Zeitung „Berliner Abendblätter“. Es handelt sich im weitesten Sinn um einen Essay, also eine geistvolle reflektierende Abhandlung über kulturelle und gesellschaftliche Themen, mit denen der Autor sich persönlich auseinandersetzt.
Im engeren Sinn kann der Text sowohl als theoretische Abhandlung als auch erzählerische Prosa in Form eines Gesprächs verstanden werden. Es ist hier ein Dialog zwischen einem Ich-Erzähler und dem“ersten Tänzer“ der Oper, der sich zugleich als regelmäßiger Besucher eines Marionettentheaters ausgibt.
Im Verlauf des Dialogs werden wechselseitig drei Anekdoten erzählt, anhand derer die Frage erörtert wird, welchen Einfluss Reflexion und Bewusstsein auf die natürliche Anmut haben.
Anmut wird auch mit Grazie gleichgesetzt als vollkommene Harmonie der Bewegung wie sie Tänzer anstreben und doch nie erreichen. Ein Mangel an Anmut oder Grazie ist dem Menschen grundsätzlich eigen, welcher wiederum zurückzuführen ist auf einen Mangel an Natürlichkeit und Unschuld. Der Text liefert auch Antworten auf die Frage nach den Ursachen dieses Verlusts. Es ist die dem Menschen eigene Fähigkeit zur Reflexion und das bewusste Erfahren seiner selbst
Anmut kann demnach nur erreicht werden, wenn der Ausdruck nicht vom Geist gelenkt und damit gestört und gehemmt werde. Die Marionette kann hier als Metapher gesehen werden für ein fiktives Wesen, das ungestört von geistiger Reflexion und bewusster Erfahrung zur vollkommener Harmonie des Ausdrucks, zu wahrhafter Anmut fähig ist.
Über die Anmut der Marionetten
In der ersten Anekdote entwerfen die Protagonisten folgendes Gedankenkonstrukt:
Marionetten sind alles andere als von Maschinisten bewegte Puppen, sie haben Eigenschaften wie
Ebenmaß, Beweglichkeit, Leichtigkeit – nur alles in einem höheren Grade; und besonders eine naturgemäßere Anordnung der Schwerpunkte. Eigenschaften, die ein noch so perfekter Tänzer niemals haben kann, sind diese doch durch ihren freien Willen, durch ihren agierenden Geist, letztlich durch ihre verlorene Unschuld nach dem Sündenfall weit entfernt vom den perfekt funktionierenden, nur der Schwerkraft gehorchenden mechanischen Bewegungsabläufen der Gliederpuppen. Auch der sie bewegende Maschinist ist lediglich Mittler, ja, der Anmut hinderlich,
Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung. Da der Maschinist nun schlechthin, vermittelst des Drahtes oder Fadens, keinen andern Punkt in seiner Gewalt hat, als diesen: so sind alle übrigen Glieder, was sie sein sollen, tot, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere; eine vortreffliche Eigenschaft, die man vergebens bei dem größesten Teil unsrer Tänzer sucht.
Es wird also gezeigt, dass die Marionette hier für die Vision eines vollkommen harmonischen Wesens steht, das dem Menschen an Anmut weit überlegen ist.
Die Marionette zeigt dabei einen Zustand von natürlicher Vollkommenheit, die der Mensch grundsätzlich nicht erreichen kann. Die einzige Möglichkeit, diese Unvollkommenheit zu überwinden liegt in dem Erreichen eines „unendlichen Bewusstseines“ so wie es „Herr C.“ in seinen abschließenden Sätzen formuliert:
„so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.“
Worauf dem Ich-Erzähler -etwas „zerstreut“ noch bleibt, auf eine letzte Möglichkeit hinzuweisen, die verlorene Unschuld wieder zu gewinnen und somit in vollkommener Grazie neu zu entstehen
…müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?
Eine offensichtlich recht absurde Frage, deren Beantwortung dann ähnlich hypothetisch vage bleibt:
Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.
Ich sehe übrigens – anders als viele Interpretatoren – in dieser wirklich geistvollen reflektierenden Abhandlung weder einigermaßen realistische Hypothesen noch überzeugend verifizierte Antworten. Es ist auch kein klassischer Lehrdialog im Sinne Platos, obwohl zweifelsohne auch hier ein Prozess der Erkenntnisgewinnung abgebildet und der Leser zum aktiven Mitdenken angeregt wird.
Ich sehe in diesem Essay vornehmlich ein Gedankenexperiment – wenn auch nicht in der strengen Form wie bei Einstein – aber doch eben eine in prosaischer Erzählform gestaltete intellektuelle Spielerei. Sehr wohl geeignet, den Ansprüchen des gebildeten Lesers der Berliner Abendblätter zu genügen. Die Thematik Verlust von Anmut und Grazie durch das sich bewusste Selbst mag zum einen dem Zeitgeist geschuldet und zum anderen bestens geeignet sein, solch geistvolle Gedankenspielereien auf der Grundlage von hierfür besonders geeigneten Inhalten zu gestalten.
Über die verlorene Unschuld eines Jünglings
Im zweiten Teil erweitert der Ich-Erzähler die Thematik, indem er den Verlust von Anmut und Grazie auf dem Gebiet des Tanzes und der Kunst auch auf den Begriff der Schönheit bezieht. Gemeint ist hier eine über die äußere Form hinausgehende innere Schönheit, die in ihrer Vollkommenheit nur mit der reinen Unschuld des Selbst zu erreichen ist.
Berichtet wird von einem gemeinsamen Bad mit einem Jüngling. Beim Trocknen seines Fußes stellte der Junge diesen auf einen Schemel und schaute dabei in einen großen Spiegel. Das, was er in diesem Moment sah, erinnerte ihn wie auch den Erzähler, an eine berühmte Statue. Als er versuchte, die Bewegung nochmals zu vollführen, um sie dem Erzähler zu zeigen, wollte dies nicht gelingen. Ab diesem Zeitpunkt stand der Jüngling tagelang vergeblich vor dem Spiegel, um die Bewegung zu vollbringen.
Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken
Der Jüngling erreicht in eben nur diesem einen Moment eine vollkommene Form von Grazie.
Sobald er sich dessen bewusst wird, entfernt er sich von diesem einzigen Moment, indem er nun versucht, eine Wiederholung dieses Bildes vollkommener Schönheit zu erreichen.
Das „Nichtwissen vom Selbst“ macht Schönheit und Anmut, demzufolge zerstört das Wissen vom Selbst beide.(Ulrike Bergermann) – Eine beispielhafte werkimmanente Interpretation, die sicher eine von vielen Deutungsmöglichkeiten sein mag.
Eine, wie ich meine, bei nüchterner Betrachtung recht alltägliche Erfahrung. Die Wiederholung eines besonderen Moments im Leben eines jeden, die Rückkehr an einen ganz besonderen Ort, behaftet mit schönsten Erinnerungen, erfüllen in den seltensten Fällen die Erwartungen, zu viele Variablen gestalten diesen besonderen Moment, diesen einzigartigen Ort, unmöglich all diese noch einmal nachzustellen für eine Dublette.
Über das Fechten mit einem Bären
In der letzten vom Tänzer vorgetragenen Anekdote dient ein absurder Fechtkampf mit einem dressierten Bären als Argumentationsgrundlage für die Anmut / Grazie-Thematik. Der Bär mit seinen instinkthaften exakt ausgeführten Bewegungen pariert jeden noch so überlegt ausgeführten Stoß seines menschlichen Gegenübers. Waren es bei den ersten beiden Beispielen noch indirekte Vergleiche, die den Verlust von Anmut und Grazie verdeutlichten, kommt es hier zum Showdown, zur direkten Konfrontation von bewusst reflektierendem Geist und dem dunkel tierisch unbewusst mechanisch exaktem Handeln. Letzteres demnach als Ausdruck höchster Grazie.
Ein konsequent aus dem Vorherigen abgeleitetes Gedankenkonstrukt, ein schöner hypothetischer Kunstgriff, aber eben auch nicht mehr.
Auch heute noch bietet Kleists Essay genügend Anregung zur geistvollen Reflexion, ethische, religiöse und philosophische Argumente, lassen sich hieraus ableiten. Beispielsweise zum Thema Bewusstsein, ein Phänomen, das sich bis heute jeglicher erkenntnistheoretischer Analyse entzieht. Jedoch, klare Antworten, eine überzeugende Beweisführung und auch einen wesentlichen Erkenntnisgewinn kann der Leser nicht erwarten.
Bernd Riebe, Januar 2019
Heinrich von Kleist – Über das Marionettentheater
Text der Erstausgabe 1810
Als ich den Winter 1801 in M… zubrachte, traf ich daselbst eines Abends, in einem öffentlichen Garten, den Herrn C. an, der seit kurzem, in dieser Stadt, als erster Tänzer der Oper, angestellt war, und bei dem Publiko außerordentliches Glück machte.
Ich sagte ihm, daß ich erstaunt gewesen wäre, ihn schon mehrere Male in einem Marionettentheater zu finden, das auf dem Markte zusammengezimmert worden war, und den Pöbel, durch kleine dramatische Burlesken, mit Gesang und Tanz durchwebt, belustigte.
Er versicherte mir, daß ihm die Pantomimik dieser Puppen viel Vergnügen machte, und ließ nicht undeutlich merken, daß ein Tänzer, der sich ausbilden wolle, mancherlei von ihnen lernen könne.
Da die Äußerung mir, durch die Art, wie er sie vorbrachte, mehr, als ein bloßer Einfall schien, so ließ ich mich bei ihm nieder, um ihn über die Gründe, auf die er eine so sonderbare Behauptung stützen könne, näher zu vernehmen.
Er fragte mich, ob ich nicht, in der Tat, einige Bewegungen der Puppen, besonders der kleineren, im Tanz sehr graziös gefunden hatte.
Diesen Umstand konnte ich nicht leugnen. Eine Gruppe von vier Bauern, die nach einem raschen Takt die Ronde tanzte, hätte von Teniers nicht hübscher gemalt werden können
Ich erkundigte mich nach dem Mechanismus dieser Figuren, und wie es möglich wäre, die einzelnen Glieder derselben und ihre Punkte, ohne Myriaden von Fäden an den Fingern zu haben, so zu regieren, als es der Rhythmus der Bewegungen, oder der Tanz, erfordere?
Er antwortete, daß ich mir nicht vorstellen müsse, als ob jedes Glied einzeln, während der verschiedenen Momente des Tanzes, von dem Maschinisten gestellt und gezogen würde.
Jede Bewegung, sagte er, hätte einen Schwerpunkt; es wäre genug, diesen, in dem Innern der Figur, zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten, ohne irgend ein Zutun, auf eine mechanische Weise von selbst.
Er setzte hinzu, daß diese Bewegung sehr einfach wäre; daß jedesmal, wenn der Schwerpunkt in einer graden Linie bewegt wird, die Glieder schon Kurven beschrieben; und daß oft, auf eine bloß zufällige Weise erschüttert, das Ganze schon in eine Art von rhythmische Bewegung käme, die dem Tanz ähnlich wäre.
Diese Bemerkung schien mir zuerst einiges Licht über das Vergnügen zu werfen, das er in dem Theater der Marionetten zu finden vorgegeben hatte. Inzwischen ahndete ich bei weitem die Folgerungen noch nicht, die er späterhin daraus ziehen würde.
Ich fragte ihn, ob er glaubte, daß der Maschinist, der diese Puppen regierte, selbst ein Tänzer sein, oder wenigstens einen Begriff vom Schönen im Tanz haben müsse?
Er erwiderte, daß wenn ein Geschäft, von seiner mechanischen Seite, leicht sei, daraus noch nicht folge, daß es ganz ohne Empfindung betrieben werden könne.
Die Linie, die der Schwerpunkt zu beschreiben hat, wäre zwar sehr einfach, und, wie er glaube, in den meisten Fällen, gerad. In Fällen, wo sie krumm sei, scheine das Gesetz ihrer Krümmung wenigstens von der ersten oder höchstens zweiten Ordnung; und auch in diesem letzten Fall nur elliptisch, welche Form der Bewegung den Spitzen des menschlichen Körpers (wegen der Gelenke) überhaupt die natürliche sei, und also dem Maschinisten keine große Kunst koste, zu verzeichnen.
Dagegen wäre diese Linie wieder, von einer andern Seite, etwas sehr Geheimnisvolles. Denn sie wäre nichts anders, als der Weg der Seele des Tänzers; und er zweifle daß sie anders gefunden werden könne, als dadurch, daß sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d. h. mit andern Worten, tanzt.
Ich erwiderte, daß man mir das Geschäft desselben als etwas ziemlich Geistloses vorgestellt hätte:
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etwa was das Drehen einer Kurbel sei, die eine Leier spielt.
Keineswegs, antwortete er. Vielmehr verhalten sich die Bewegungen seiner Finger zur Bewegung der daran befestigten Puppen ziemlich künstlich, etwa wie Zahlen zu ihren Logarithmen oder die Asymptote zur Hyperbel.
Inzwischen glaube er, daß auch dieser letzte Bruch von Geist, von dem er gesprochen, aus den Marionetten entfernt werden, daß ihr Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte hinübergespielt, und vermittelst einer Kurbel, so wie ich es mir gedacht, hervorgebracht werden könne.
Ich äußerte meine Verwunderung zu sehen, welcher Aufmerksamkeit er diese, für den Haufen erfundene, Spielart einer schönen Kunst würdigte. Nicht bloß, daß er sie einer höheren Entwicklung für fähig halte: er scheine sich sogar selbst damit zu beschäftigen.
Er lächelte, und sagte, er getraue sich zu behaupten, daß wenn ihm ein Mechanikus, nach den Forderungen, die er an ihn zu machen dächte, eine Marionette bauen wollte, er vermittelst derselben einen Tanz darstellen würde, den weder er, noch irgend ein anderer geschickter Tänzer seiner Zeit, Vestris selbst nicht ausgenommen, zu erreichen imstande wäre.
Haben Sie, fragte er, da ich den Blick schweigend zur Erde schlug: haben Sie von jenen mechanischen Beinen gehört, welche englische Künstler für Unglückliche verfertigen, die ihre Schenkel verloren haben?
Ich sagte, nein: dergleichen wäre mir nie vor Augen gekommen.
Es tut mir leid, erwiderte er; denn wenn ich Ihnen sage, daß diese Unglücklichen damit tanzen, so fürchte ich fast, Sie werden es mir nicht glauben. – Was sag ich, tanzen? Der Kreis ihrer Bewegungen ist zwar beschränkt; doch diejenigen, die ihnen zu Gebote stehen, vollziehen sich mit einer Ruhe, Leichtigkeit und Anmut, die jedes denkende Gemüt in Erstaunen setzen.
Ich äußerte, scherzend, daß er ja, auf diese Weise, seinen Mann gefunden habe. Denn derjenige Künstler, der einen so merkwürdigen Schenkel zu bauen imstande sei, würde ihm unzweifelhaft auch eine ganze Marionette, seinen Forderungen gemäß, zusammensetzen können.
Wie, fragte ich, da er seinerseits ein wenig betreten zur Erde sah: wie sind denn diese Forderungen, die Sie an die Kunstfertigkeit desselben zu machen gedenken, bestellt?
Nichts, antwortete er, was sich nicht auch schon hier fände; Ebenmaß, Beweglichkeit, Leichtigkeit – nur alles in einem höheren Grade; und besonders eine naturgemäßere Anordnung der Schwerpunkte.
Und der Vorteil, den diese Puppe vor lebendigen Tänzern voraus haben würde?
Der Vorteil? Zuvörderst ein negativer, mein vortrefflicher Freund, nämlich dieser, daß sie sich niemals zierte. – Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung. Da der Maschinist nun schlechthin, vermittelst des Drahtes oder Fadens, keinen andern Punkt in seiner Gewalt hat, als diesen: so sind alle übrigen Glieder, was sie sein sollen, tot, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere; eine vortreffliche Eigenschaft, die man vergebens bei dem größesten Teil unsrer Tänzer sucht.
Sehen Sie nur die P… an, fuhr er fort, wenn sie die Daphne spielt, und sich, verfolgt vom Apoll, nach ihm umsieht; die Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes; sie beugt sich, als ob sie brechen wollte, wie eine Najade aus der Schule Bernins. Sehen Sie den jungen F… an, wenn er, als Paris, unter den drei Göttinnen steht, und der Venus den Apfel überreicht; die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen.
Solche Mißgriffe, setzte er abbrechend hinzu, sind unvermeidlich, seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.
Ich lachte. – Allerdings, dachte ich, kann der Geist nicht irren, da, wo keiner vorhanden ist. Doch ich bemerkte, daß er noch mehr auf dem Herzen hatte, und bat ihn, fortzufahren.
Zudem, sprach er, haben diese Puppen den Vorteil, daß sie antigrav sind. Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften, wissen sie nichts: weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, größer ist, als jene, die sie an der Erde fesselte Was würde unsre gute G… darum geben, wenn sie sechzig Pfund leichter wäre, oder ein Gewicht von dieser Größe ihr bei ihren Entrechats und Pirouetten, zu Hülfe käme? Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben; wir brauchen ihn, um darauf zu ruhen, und uns von der Anstrengung des Tanzes zu erholen: ein Moment, der offenbar selber kein Tanz ist, und mit dem sich weiter nichts anfangen läßt, als ihn möglichst verschwinden zu machen.
Ich sagte, daß, so geschickt er auch die Sache seiner Paradoxe führe, er mich doch nimmermehr glauben machen würde, daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten sein könne, als in dem Bau des menschlichen Körpers.
Er versetzte, daß es dem Menschen schlechthin unmöglich wäre, den Gliedermann darin auch nur zu erreichen. Nur ein Gott könne sich, auf diesem Felde, mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt in einander griffen.
Ich erstaunte immer mehr, und wußte nicht, was ich zu so sonderbaren Behauptungen sagen sollte.
Es scheine versetzte er, indem er eine Prise Tabak nahm, daß ich das dritte Kapitel vom ersten Buch Moses nicht mit Aufmerksamkeit gelesen; und wer diese erste Periode aller menschlichen Bildung nicht kennt, mit dem könne man nicht füglich über die folgenden, um wie viel weniger über die letzte, sprechen.
Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet. Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte, durch eine bloße Bemerkung, gleichsam vor meinen Augen, seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden. – Doch, welche Folgerungen, setzte ich hinzu, können Sie daraus ziehen?
Er fragte mich, welch einen Vorfall ich meine?
Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er errötete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst er war außerstande dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –
Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte. Noch jetzt lebt jemand, der ein Zeuge jenes sonderbaren und unglücklichen Vorfalls war, und ihn, Wort für Wort, wie ich ihn erzählt, bestätigen könnte. –
Bei dieser Gelegenheit, sagte Herr C… freundlich, muß ich Ihnen eine andere Geschichte erzählen, von der Sie leicht begreifen werden, wie sie hierher gehört.
Ich befand mich, auf meiner Reise nach Rußland, auf einem Landgut des Herrn v. G. . ., eines livländischen Edelmanns, dessen Söhne sich eben damals stark im Fechten übten. Besonders der ältere, der eben von der Universität zurückgekommen war, machte den Virtuosen, und bot mir, da
ich eines Morgens auf seinem Zimmer war, ein Rapier an. Wir fochten; doch es traf sich, daß ich ihm überlegen war; Leidenschaft kam dazu, ihn zu verwirren; fast jeder Stoß, den ich führte, traf, und sein Rapier flog zuletzt in den Winkel. Halb scherzend, halb empfindlich, sagte er, indem er das Rapier aufhob, daß er seinen Meister gefunden habe: doch alles auf der Welt finde den seinen, und fortan wolle er mich zu dem meinigen führen. Die Brüder lachten laut auf, und riefen: Fort! fort! In den Holzstall herab! und damit nahmen sie mich bei der Hand und führten mich zu einem Bären, den Herr v. G… ihr Vater, auf dem Hofe auferziehen ließ.
Der Bär stand, als ich erstaunt vor ihn trat, auf den Hinterfüßen, mit dem Rücken an einem Pfahl gelehnt, an welchem er angeschlossen war, die rechte Tatze schlagfertig erhoben, und sah mir ins Auge: das war seine Fechterpositur. Ich wußte nicht, ob ich träumte, da ich mich einem solchen Gegner gegenüber sah; doch: stoßen Sie! stoßen Sie! sagte Herr v. G… und versuchen Sie, ob Sie ihm eins beibringen können! Ich fiel, da ich mich ein wenig von meinem Erstaunen erholt hatte, mit dem Rapier auf ihn aus; der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. Ich versuchte ihn durch Finten zu verfuhren; der Bär rührte sich nicht. Ich fiel wieder, mit einer augenblicklichen Gewandtheit, auf ihn aus, eines Menschen Brust würde ihn ohnfehlbar getroffen haben: der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. jetzt war ich fast in dem Fall des jungen Herrn v. G… Der Ernst des Bären kam hinzu, mir die Fassung zu rauben, Stöße und Finten wechselten sich, mir triefte der Schweiß: umsonstl Nicht bloß, daß der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) ging er gar nicht einmal ein: Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht.
Glauben Sie diese Geschichte?
Vollkommen! rief ich, mit freudigem Beifall; jedwedem Fremden, so wahrscheinlich ist sie; um wie viel mehr Ihnen!
Nun, mein vortrefflicher Freund, sagte Herr C…, so sind Sie im Besitz von allem, was nötig ist, um mich zu begreifen. Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. – Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.
Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.
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