Vaterfiguren in Goethes Erlkönig und Max Frischs Homo Faber

Rational denkende Verstandesmenschen

Die Ballade “Der Erlkönig” wurde von Goethe 1782 für das Singspiel “Die Fischerin, ein Singspiel. Auf dem natürlichen Schauspiel zu Tiefurth vorgestellt” geschrieben.
Sie zählt zu den bekanntesten lyrischen Werken im deutschen Sprachraum überhaupt,
Sie ist bis heute fester Bestandteil fast aller Lehrpläne für den Deutschunterricht an Gymnasien, meist schon für die Unterstufe vorgesehen, da dieses Gedicht vermeintlich einen leichten Zugang zu lyrischen Werken allgemein ermöglicht. So einfach, klar und überschaubar Inhalt und Form auch sein mag, so vielfältig sind die Möglichkeiten der Interpretation.

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht!
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. –

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele, spiel ich mit dir,
Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind,
In dürren Blättern säuselt der Wind. –

„Willst feiner Knabe du mit mir gehn ?
Meine Töchter sollen dich warten schön,
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düsteren Ort? –
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. –

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“
Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! –

Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,
Er hält in den Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.

Was gibt der Text her?
Formal handelt es sich um eine Ballade mit acht Strophen zu je vier Versen im Paarreim. Das Metrum ist grundsätzlich jambisch und in bewegten Szenen auch anapästisch.
Dann gibt es gleich vier Erzähler-Instanzen, Vater, Sohn, Erlkönig und Erzähler jeweils mittels Gedankenstrich getrennt.
Der Erzähler beginnt mit einer Frage, die auch bald darauf beantwortet wird:
Ein Vater reitet des nachts mit seinem Kind durch dunklen Wald. Ursache und Ziel des nächtlichen Ritts bleiben unklar, am Ende wird zwar der Hof erreicht, vermutlich das Zuhause, allerdings bleibt offen, ob dies auch das urprüngliche Ziel war, oder nur aus Verzweiflung als möglicher Ort der Rettung des Kindes angestrebt wurde.
Den bangen Hinweise des Knaben auf die Verführungen des Erlenkönigs begegnet der Vater mit rationalen Argumenten, die zunächst offensichtlich das Kind beschwichtigen, beruhigen sollen. Erst der verzweifelte Hilferuf des Jungen Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! läßt den Vater grausen und endlich handeln – zu spät:
Erreicht den Hof mit Mühe und Not; in seinen Armen das Kind war tot.
Es ist verständlich, dass diese sonderbar rätselhaft bleibende Handlung zu den unterschiedlichsten Interpretationen herausfordert.
Bei den vielen Analysen lassen sich grundsätzlich vier Interpretationsansätze unterscheiden. Davon drei sogenannte werkimmanente Analysen, d.h. weitgehend losgelöst vom kulturhistorischen Hintergrund.

1. die Fieberwahnhypothese Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht!
Die Illusionen des kranken fiebernden Kindes finden beim Vater kein Gehör, er reagiert lediglich mit den Mitteln der realen Welt und sucht Rettung zu Hause im Hof

2. die Pubertätshypothese Meine Töchter sollen dich warten schön,
Die erotischen Versprechungen des Erlkönigs werden als Vehikel benutzt, den Übergang des Knaben vom Kind zum Manne zu symbolisieren und werfen die Problematik der Eltern-Kind-Beziehung während der Pubertät auf. Der Tod des Kindes steht allegorisch für den Übergang ins Erwachsenenalter.

3. Die MissbrauchshypotheseMein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan!
Diese in jüngster Zeit häufig bemühte Deutung stützt sich auf einige recht eindeutige Textpassagen mit sexuellen Bezügen. Der Erlkönig als Kinderschänder, der Vater steht für das Versagen elterlicher Verantwortung oder gar für die Täterschaft?
Obwohl sich für all diese Deutungen Belege im Text finden lassen und sicher auch für viele heutige Leser plausibel, werfen sie doch allzu viele Fragen auf, so dass keine dieser Interpretationen wirklich überzeugend ist. Ich spreche mich daher für die klassisch-historische Deutung aus und möchte dies im Folgenden begründen.
Den Stoff für dieses Werk fand Goethe in der dänischen Volksballade Herr Oluf, die Herder ins Deutsche übertragen hatte. Dabei übersetzte dieser das dänische Wort Ellekonge (Elfenkönig) mit Erlkönig, – (Elle, Niederdeutsch = Erle) wobei ihm der ältere, poetisch gebrauchte Begriff Elvekonge durchaus bekannt gewesen sein dürfte.
In der dänischen Ballade ist es der tapfer-treue Herr Oloff, der den Verlockungen der Tochter des Elfenkönigs widersteht aber dafür mit dem Leben bezahlt. Wenn auch die Protagonisten bei Goethe andere sind und vor allem die inhaltliche Ausformung des Stoffs sich ganz verschieden zeigt, sind doch einige Elemente deutlich erkennbar.
Anfangszene:
Herr Oloff reitet so spät und weit
Zu bieten auf seine Hochzeit Leut´,
Da tanzen die Elfen auf grünem Land,
Erlkönigs Tochter, die reicht ihm die Hand.
“Willkommen, Herr Oloff! was eilst du von hier?
Komm her in die Reihen und tanze mit mir.”
Versprechungen:
” Ich darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag,
Früh Morgen ist mein Hochzeitstag.”
“Hör’ an, Herr Oloff, tritt tanzen mit mir,
Einen Haufen Goldes schenke ich dir.”
“Einen Haufen Goldes nehme ich wohl,
Doch tanzen mit dir ich nicht darf, noch soll.”
Drohungen:
“Und will Herr Oloff nicht tanzen mit mir,
Soll Seuch und Krankheit folgen dir!”
Tod:
Sie tut einen Schlag ihm auf sein Herz…
Da ächzt er, da starb er; als Morgen war…
“Du weintest, o Mutter, was fehlet dir?
Wo ist mein Liebster?” “Er ist nicht hier!”
“O Tochter, er ritt in den Wald zur Stund’,
Zu proben allda sein Pferd und Hund.”
Drauf hob sie die Decke von scharlachrot,
Da lag ihr Liebster, war bleich und tot.

Goethes naturmagische Fantasien dürften allerdings gerade durch diese eigenwillige Übertragung angeregt worden sein, war doch die Erle seit eh und je im Volksglauben Symbol für das Unheimliche, Böse, Krankheit und Tod. Der Elfen – Erlen Kontext ergibt sich somit durch die an Bäumen gebundenen Elementargeister. In Goethes weniger bekanntem Elfenlied tanzen dann auch Elfen um Mitternacht, wenn die Menschen erst schlafen, auf Wiesen an den Erlen
Kannte die Dichtung des Sturm und Drangs ausschließlich Liebesballaden, so schuf Goethe mit dieser besonderen Form der naturmagischen Ballade ein für die Dichtung des 18 Jahrhunderts neues Element. Das bislang auf das Ästhetische und Religiöse beschränkte Naturbild wird nun erweitert durch das Magisch-Mystische. Unheimliches und Bedrohliches bestimmen dieses Naturgefühl. Das Unbewußte, die Gefühlstiefen der Seele, welche die Aufklärung nicht beachtet hatte, erhielten in diesen Gedichten Sprache. Für diese magischen Kräfte der Natur empfänglich sind nach des Dichters Überzeugung allerdings nur bestimmte Menschen, der Künstler, die feinfühlige Frau (Charlotte von Stein), einfache Menschen (wie im Gedicht Der Fischer) und eben das Kind im Erlkönig – Deutlich wird dies in einem Brief an Frau von Stein vom 19.1.1778, der sich bezieht auf den Tod der 18-jährigen Christiane von Laßberg. Goethes Diener hatten ihre Leiche aus der Ilm geborgen:
Gute Nacht, Engel, schonen Sie sich und gehen nicht herunter. Diese einladende Trauer hat was gefährlich Anziehendes wie das Wasser selbst; und der Abglanz der Sterne des Himmels, der aus beiden leuchtet, lockt uns…Ich kann’s meinen Jungen nicht verdenken, die nun nachts nur zu dreien einen Gang hinüber wagen; ebendie Saiten der Menschheit werden an ihnen gerührt, nur geben sie einen roheren Klang.
Diesen natur-empfindsamen Menschen gegenüber stehen die rational denkenden Verstandesmenschen, so der Vater im Erlkönig. Sie sind die Vertreter der Aufklärung, überzeugt, dass allein die Vernunft zur umfassenden Erkenntnis führt, Vernunft gestützt auf nachprüfbare Ergebnisse der genauen Beobachtung, der kritischen Analyse. Die Bedeutung der Naturwissenschaften mit ihren empirischen Methoden wird im Zeitalter der Aufklärung folgerichtig immer wichtiger. Goethe steht hier eindeutig in der Tradition der klassischen Betrachtungsweise. So folgt er in seiner Farbenlehre einer ganzheitlich klassisch-naturwissenschaftlichen Weltanschauung und wendet sich gegen Newtons mathematisch-naturwissenschaftlichen Ansatz. Daher bleibt Goethe sensibel für naturmagische Energien, für rational nicht nachvollziehbare Kräfte, die den Menschen beherrschen. Für ihn bleibt Fluch und Segen zugleich, dass diese Kräfte nur an die Saiten der Menschen rühren, die dafür empfänglich sind. Das Kind sieht den Erlkönig, der nach ihm greift, der Vater sieht ihn nicht. Seine „vernünftigen“ Argumente fruchten nicht, seine verstandesbestimmte Realität steht der unbewusst seelischen Befindlichkeit des Kindes gegenüber. Diese Polarität beginnt sich erst aufzulösen mit den deutlichen Anzeichen der realen Gefährdung des Knaben – den Vater grauset’s – und verschwindet schließlich mit der Gewißheit des Todes.

Dieses Spannungsfeld zwischen der ganzheitlich unbewusst gefühlsbestimmten Wahrnehmung der Natur und einer „objektiven“ d.h. durch physikalische Gesetze bestimmte und durch Messergebnisse überprüfbare Realität wird in der neueren Prosa-Literatur beispielsweise im Homo Faber von Max Frisch thematisiert. Hier ist es der rational denkende Techniker Faber, der seine Weltsicht deutlich beschreibt: Ich bin Techniker und gewohnt, Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas – klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse….eine Sache der Gravitation…Ich sehe auch keine versteinerten Engel, es tut mir leid; auch keine Dämonen, ich sehe was ich sehe: die üblichen Formen der Erosion, dazu meinen langen Schatten auf dem Sand, aber keine Gespenster.Dort das jugendlich unschuldige so anders empfindende Mädchen Sabeth, Fabers Geliebte, die, wie er (zu spät) erfährt, seine Tochter ist. Dieses aufschlussreiche Spiel um Vergleiche bei der nächtlichen Wanderung über die Hügel von Korinth: …von Minute zu Minute wird es heller..man sieht wo Athen liegen muss, die schwarzen Inseln in hellen Buchten, es scheiden sich Wasser und Land, ein paar kleine Morgenwolken darüber: Wie Quasten mit rosa Puder! findet Sabeth, ich finde nichts und verliere wieder einen Punkt.
Dann diese unwahrscheinliche Ereignisfolge, die für den Verstandesmenschen Faber ganz unerklärlich bleibt eben wegen dieser äußerst geringen Eintrittswahrscheinlichkeit: Bruchlandung der Maschine, Änderung des Reiseplanes, Bekanntschaft mit Sabeth auf dem Schiff, gemeinsame Weiterreise nach Griechenland und dort schließlich das fatale Ereignis – Sabeths Tod. Der nächtliche Ritt des Vaters mit seinem Sohn durch den Wald wird hier zur transkontinentalen Reise des Walter Fabers mit seiner Tochter, die naturmagischen Mächte in Gestalt des Erlkönigs siegen letztlich über die Ratio des Verstandesmenschen wie auch beim Homo Faber das Schicksal sich aller Berechenbarkeit entzieht und den vernunftgeleiteten Techniker wie auch seine unschuldige Tochter mit aller Härte trifft. In beiden Werken ist es die Vaterfigur, an die das Kind sich hilfs- wie liebebedürftig wendet, hier wie dort gibt es keine Rettung, vielmehr erweist sich gerade die Ratio der Väter als unheilbringende Instanz. Zu spät erkennen sie die fatalen Folgen ihres Handelns: den Vater grauset’s, er reitet geschwind…und Faber resümmiert am Ende: Hanna (Sabeths Mutter) hat schon immer gewusst, dass ihr Kind sie einmal verlassen wird; aber auch Hanna hat nicht ahnen können, dass Sabeth auf dieser Reise gerade ihrem Vater begegnet, der alles zerstört –

Bernd Riebe, 2018

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